Meine Geburt – und was sich davor und danach abspielte

Das Titelfoto zeigt mich am 15. April 1951 mit einem Schlüsselbund am vorderen Eingangsportal von Schloss Schmalkalden. Mit Laufen lernen hatte ich es nicht so. Das waren wohl so ziemlich meine ersten Schritte.

Die Links zu Selmas Tagbüchern kommen etwas weiter unten. Aber ich fange mal davor an, weil es ein Foto gibt, dass mich prägt, das ich wieder und wieder sehe. Ernst Fenner (*1885), Selmas Vater, steht da mit Nazis auf dem Innenhof von Schloss Schmalkalden. Ekelhafte Kotzbrocken mit dem Ausdruck von Herrenmenschen, von rassistischer Überlegenheit – egal wie fett, dumm oder hässlich sie sind. Ernst Fenner war Regierungsbaurat im Dienste Preußens, er war zuständig für Schulen, Verwaltungsgebäude und Kirchen. Er hatte fünf Kinder, davon das jüngste, Gottfried, mit damals unheilbarer Meningitis/Hirnhautentzündung. Als er nach Schmalkalden versetzt wurde, renovierte er einen Flügel des leer stehenden Schlosses als Wohnung und legte große Gärten an, die Rettung der Familie im Zweiten Weltkrieg.

Der Herrenmensch in der Mitte ist Philipp von Hessen, einer der ersten vom Hochadel aufseiten Hitlers. Seine Mutter war die jüngste Schwester von Kaiser Wilhelm II., seine Frau war eine Tochter des Königs von Italien.

Was mich beeindruckt: Wie man standhaft bleibt, wie man sich weigert mitzumachen, welche innere Standhaftigkeit man haben muss, in solch einer Situation zu leben und sich nicht opportunistisch anzupassen.

Damals, um die Zeit meiner Geburt, müsste es etwa so ausgesehen haben.

Und jetzt, wo die EU-Knete alles in Europa schön macht, sieht das Schloss so toll wie nie zuvor aus.

Zurück zu mir. Am Ende ihres Lebens erinnerte sich meine Mutter am intensivsten an die Zeit vor meiner Geburt, als sie mit ihrem Bruder Karl erst in der Hitlerjugend HJ, dann nach dem Krieg in der sozialistischen Freien Deutschen Jugend FDJ Theater spielte.

(Bruder) Karl, links und Selma etwa 1935 auf der Schlosstreppe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Sudetendeutschen, genauer gesagt die meisten, nicht alle, aus der Tschechoslowakei vertrieben. Mein Vater kam mit seiner Mutter, den drei jüngeren Brüder, einem Leiterwagen, aber nur einem Auge nach Schmalkalden. Das andere hatte er im Krieg verloren – ein Granatsplitter. Er war 1924 geboren, also 23 oder 24 Jahre alt, als sie nach Schmalkalden kamen. Flüchtlinge waren nicht beliebt. Ein Auswahlkriterium meiner Mutter war, wie sie oft erzählte, dass er ihr nicht gleich an die Wäsche wollte. Aber dann geschah es doch: Selma war schwanger, sprang immer wieder von der Schlossmauer – aber was sitzt, das sitzt. Dann verriet ihre Schwester Erna beim Abendessen, was los war. Mein Vater Ernst Giebel musste bei meinem Großvater Ernst Fenner antreten und zusagen, dass geheiratet wird.

„Wie konnte das passieren?“, fragte ich meine Mutter. „Ja, das war auf dem Heimweg nach dem Tanzen.“ Tanz war oft in den Wirtshäusern in den umliegenden Dörfern. Mangels Uber ging man zu Fuß nach Hause. Oder ins Gebüsch. Es war ihr erstes Mal.

Die Hochzeit fand am 30. Juli 1949 statt. Das Kleid ist umgeschneidert von Tante Erika, also der Frau von Bruder Karl. Anzug und Hemd sind umgeschneidert von Selmas Vater. 

Wir sind ein Stück weiter, aber noch nicht ad fontes, an den Quellen sozusagen. Meine Geburt minus 280 Tage, der durchschnittlichen Trächtigkeit des menschlichen Weibchens – da kommt man auf den 8. Mai 1949. Das war also exakt vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Die Berliner Luftbrücke endete wenige Tage später am 12. Mai 1949. Der 8. Mai 1949 war ein Sonntag. Das könnte also hinhauen. Was passierte sonst noch an diesem Tag, dem 8. Mai 1949? Der Parlamentarische Rat verabschiedet in dritter Lesung das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit 53 gegen 12 Stimmen (CSU 6, Zentrum, DP und KPD je 2). Ich bedanke ich. Da haben sie sich doch an diesem lauen Maiabend ein schönes Datum ausgesucht.

Selma Fenner, Tagebuch I, 1950 – 1957

Selma Fenner, Tagebuch II, 1962 – 1964

Selma Fenner, Tagebuch III, 1964 – 1967

Selma Fenner, Tagebuch IV, 1968 – 1974

Selma Fenner, Tagebuch V, 1974 – 1981

Selma Fenner, Tagebuch VI, 1982 – 1990

Es gibt zwei Bücher, die ich dazu empfehle: Harald Jähner, Wolfszeit – Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955 sowie Ian Keshaw, Achterbahn: Europa 1950 bis heute. Beide Titel habe ich auch im Museum „Deutschland 1945 bis heute“ im Berlin Story Bunker intensiv genutzt. Bei Jähner geht es sehr präzise und aus vielen Perspektiven es um die ersten Jahre nach dem Krieg; Kershaw hat sich verdienstvoll fast um meine ganze bisherige Lebenszeit gekümmert.

Wollte man noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, ging das bis zum Jahr 1370, als Heinze Fenner aus Niedergrenzebach als Schöffe bei einem Prozess in Treysa zu tun hatte. So lange kann ich meine Vorfahren ohne Unterbrechung zurückverfolgen. In Niedergrenzebach findet bis heute alle drei Jahre ein Familientreffen statt. Da kommen die aus Malaysia, Australien und den USA. Aber das kommt irgendwann in einem anderen Kapitel. Auch den Ahnenpass mit dem fetten Hakenkreuz auf dem Umschlag als Ariernachweis der Familie Giebel müsste ich noch zeigen und besprechen.