1983 bis 1986 lebte ich mit Familie in Ruanda. Warum eigentlich? Drei kleine Kinder und die beste Zeit im Leben, das große Abenteuer zu suchen, die sechs Jahre Fabrik hinter mir zu lassen. Die Verantwortung war hoch. Nach Hause kam ich gerade noch lebend. Später kam es zum Genozid an den Tutsi, 1994.
Es gibt bereits drei Artikel über Ruanda auf meiner Website, einen über meinen Besuch im Jahr 2023, in dem es in Kapitel 5 auch einen Rückblick auf die Zeit in den 80er Jahren gibt, als wir in Ruanda lebten. Meine Mutter Selma hat uns zweimal besucht und darüber ausführlich geschrieben – besser als ich die Situation beschreiben kann. Außerdem beschreibe ich mein Projekt, mit dem holzsparendem Herd Typ Mukoma Unterricht im ganzen Land zu machen.
In diesem kürzeren Beitrag hier geht es darum, warum wir von 1983 bis 1986 nach Ruanda gegangen sind und wie ich zurückkam.
Ich hatte sechs Jahre als Lagerarbeiter und Gabelstaplerfahrer bei der Fernsehgerätefabrik Graetz in Bochum gearbeitet, als das dritte Kind unterwegs war. Für die beiden vorhergehenden hatte ich (zumindest maßgeblich) jeweils einen Kinderladen gegründet. Beim ersten wollte uns das Jugendamt Bochum richtig Stress machen, weil die Kinder angeblich hospitalisiert würden, wenn sie so früh betreut werden. Wir mieteten einen Laden an der Castroper Straße, in der Nähe des Stadtparks und des Zoos. Eine Kindergärtnerin, ein Zivildienstleistender und jeweils ein Elternteil für sieben Kinder – ein traumhafter Schlüssel.
Mit dem zweiten Kind war es einfacher. Wir haben es auch einfach gemacht. Aber: Für alle Eltern hieß das, knapp ein Drittel ihres Einkommens dafür zu zahlen. Staatsknete gab es nicht. Diese Forderung kam uns gar nicht in den Sinn.
Mein pädagogischer Hintergrund? Um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, hatte ich eine 28-seitige Arbeit über frühkindliche Erziehung unter besonderer Berücksichtigung der (sehr) frühen Sowjetunion und der sozialistischen Ideen in der Weimarer Republik geschrieben. „Wer auch immer das geschrieben hat …“, sagt heute noch ein Verwandter, Rudolf. Aber es war so, ich hatte mich da reingekniet. Dann hatte ich das Kindertheater im Hermann-Schafft-Haus in Kassel mit Wolfram Frommlet: sozialisierende Rollenspiele mit Kindern. Also: Die sieben Geißlein verstecken sich vor dem Wolf. Warum eigentlich? Bei uns haben sie sich solidarisiert und die Geißlein durften Wolfram und mich verprügeln. Mit diesen Erfahrungen im Hintergrund arbeitete ich schließlich ein knappes Jahr im Kinderladen Eulenbaum, dem ersten in Bochum unter der Leitung von Almuth und Hartmut Dreier. Wolfram war Regisseur am Staatstheater Kassel. Dort habe ich ihn kennen gelernt. Ich habe nach zehn Jahren an der Oper aufgehört, als im Weihnachtsmärchen die Kinder abstimmen sollten, wie lange der Räuber Hotzenplotz für den Diebstahl einer Kaffeemühle ins Gefängnis soll. Erziehung zum Faschismus!
Mit drei Kindern kann man nicht mehr arbeiten. Ich wollte alle, also genau gesagt, ich wollte gerne fünf. Daher habe ich vor der Geburt des dritten Kindes aufgehört zu arbeiten. Das war ambivalent, eher schwierig, eine schwierige Entscheidung. Ich hatte in der Fabrik eine zuverlässige und aktive Betriebsgruppe gegründet, wir hatten Einfluss gewonnen, schließlich ein Drittel der Sitze im Betriebsrat. Immer so, dass wir nicht aus der IG-Metall geworfen wurden, nicht zu linksradikal, sondern im Interesse der 2000 Frauen und 300 Männer der Fabrik.
Bevor ich in der Fabrik war, dauerten die Betriebsversammlungen 30 Minuten. Sie müssen mit der gesamten Belegschaft laut Betriebsverfassungsgesetz alle drei Monate stattfinden. Als ich die Fabrik nach sechs Jahren verließ, gab es keine Betriebsversammlung mehr mit weniger als sechs Stunden. Bei der letzten Betriebsversammlung wollte Hagedorn, der Versammlungsleiter und stellvertretende Betriebsratsvorsitzende, Mitglied der IG Metall, mein Erzfeind, mich nicht mehr auf die Bühne lassen. Erst als ich sagte, dass ich kündige und mich verabschieden wollte, ließ er mich hoch. Es dauerte nicht lange, da fiel er bei einem Betriebsratsausflug betrunken aus dem Fenster und war tot.
Sechs Stunden standen die Bänder still. Sechs Stunden wurde diskutiert. Sechs Stunden lange wurden auf Mängel und Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt. Das allein brachte mir den unendlichen Dank der Mitarbeiterinnen und den Groll der Direktion ein. Das Management war aber ganz nett, nicht so schlimm wie die hauptamtlichen, opportunistischen, schleimenden Betriebsräte der IG Metall. Das Management hatte einen gewissen intellektuellen Respekt. Es war ein Kräftemessen. Sie haben nie versucht, mich rauszuschmeißen oder mir irgendwas in die Schuhe zu schieben. Im Gegenteil: Als ich nach sieben Tagen Knast in London aus Nordirland zurückkam, musste ich zum Personalchef, dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, wurde aber gefragt, ob ich nicht allmählich ins Management kommen wollte. Der Personalchef war Theologe! Theologe in einer US-amerikanischen Firma. Graetz gehörte ITT. Ich schweife ab …
Meine Frau war in ihrem Leben kaum aus dem Ruhrgebiet herausgekommen. Ihr Vater war Bergmann mit allem, also Staublunge und krummem Rücken, ihre Mutter war Hausfrau. Sie war Krankenschwester und spezialisiert auf Gemeindeschwester. Das heißt, sie hatte eine gute Ausbildung und als Gemeindeschwester war sie es gewohnt, selbständig zu organisieren und zu arbeiten.
Es gab den staatlichen Entwicklungsdienst DED und die kirchliche, protestantische Organisation Dienste in Übersee, DÜ. Diese lag mir näher. Ich hatte viele Jahre in der Evangelischen Studentengemeinde in Bochum unter Pfarrer Hartmut Dreier gearbeitet, das heißt, bei linken Internationalismusgruppen mitgemacht – und vorher schon in der ESG Kassel unter Uli Röhm Kriegsdienstverweigerer beraten (was dazu führte, dass ich zunächst in den Bundesvorstand gewählt wurde und dann 1971 als Bundesgeschäftsführer angestellt wurde. Da war ich 21 Jahre alt, hatte fünf bis sechs Leute und machte mit selbst im Keller gedrucktem Kriegsdienstverweigerer-Beratungsmaterial einen Umsatz von einer halben Million DM. Siggi Martsch war der Drucker, 2006 besuchte ich ihn in Kurdistan).
Meine damalige Frau und heutig Ex, die Mutter unserer drei Kinder, wollte gerne raus, auch weil es in der ESG Bochum mehrere Freundinnen und Freunde gab, damals Genossinnen und Genossen, die entweder aus anderen Ländern kamen oder in andere Länder gingen.
Mir ging es so, dass ich dachte, das sei jetzt der beste Moment im Leben. Drei Kinder, die noch nicht in die Schule mussten (der älteste doch) und nach der Fabrik Zeit, etwas ganz anderes zu machen. Man kann sich das Land nicht aussuchen. Es ging nämlich vorher lange um PNG, Papua-Neuguinea. Da hatte ich mich schon eingelesen. Dann also Ruanda. Wir hatten kein Geld, da einfach mal hinzufliegen und zu gucken, was uns erwartet.
Bei DÜ muss man dann Kurse über interkulturelles Lernen belegen. Für mich war es gut, dass ich an den medizinischen Vorbereitungskursen teilnehmen konnte und auch an dem über medizinische Statistik. Ziel war es, im Gastland zu analysieren, welche Krankheiten wo und warum auftreten, was man an Prävention machen kann. Diese Kurse fanden in Tropeninstituten statt, ich meine in Heidelberg und in Hamburg. In beiden Tropeninstituten lag ich dann einige Jahre später mit einer Malaria Tropica (600.000 Tote pro Jahr durch Malaria) und gleichzeitig mit Bilharziose. Daran sterben heute noch etwa 200.000 Menschen pro Jahr. Da war mein Konkurs mit der Buchhandlung Berlin Story Unter den Linden viel später eine kleinere Krise. So habe ich es immer empfunden. Nur Geld.
Es gab noch eine kritische Situation am Ende der Kurse bei DÜ. Die Teamleiter wollten mich, den eigentlich Unqualifizierten, und sagten zu meiner Frau, ohne mich würde das nichts mit der Ausreise. Für mich war das super, weil ich von DÜ immer Unterstützung und teilweise auch Geld für meine Projekte in Ruanda bekommen habe. Ich konnte mir aussuchen, was ich für sinnvoll hielt. Und nach der Zeit in Ruanda erhielt ich von DÜ als Wiedergutmachung für die Scheidung noch für zwei Jahre einen Inlandsvertrag und konnte nach Tschernobyl bei der Gesellschaft für Strahlenmesstechnik in Münster Radioaktivität messen, Kongresse besuchen und mich als Journalist auf diesem Gebiet profilieren.
Die Ausreise war schrecklich, weil SABENA streikte, der Flughafen Brüssel überfüllt und die Lebensmittel ausverkauft waren. Easy: Ich stürmte mit den drei Kindern über eine Gangway ein Flugzeug und bekam von den Stewardessen jede Menge Wasser und Babynahrung. Die Ankunft morgens um fünf Uhr in Kigali war überwältigend: er Duft, die Wärme, dieses Licht! Andere DÜ-ler holten uns ab, Jürgen Singerhoff, und seine Frau Viktoria hatte mit den Kindern Solveig und Erk im Garten ein Frühstück mit tropischen Früchten vorbereitet, die ich noch nie gesehen hatte. Es war sagenhaft. Die Fabrik war so weit weg. Vor uns lag eine Welt, von der wir an diesem Morgen des 24. Dezember 1983 immer noch nicht die geringste Vorstellung hatten.
Briefpapier mit kunstvoll aufgeklebten Grafiken aus Bananenblättern mit christlichen Motiven und einem Rugo, dem Hof.
Die Reise zurück nach Deutschland war für mich allerdings ein Horror. Mit ziemlich krakeliger Handschrift schrieb ich meiner Mutter am 16. Juli 1986, dass ihr Päckchen angekommen sei, ich aber mit Hepatitis-Rückfall und Malaria im Bett liege und meine Frau gestern dachte, ich nippele ab. „Ich muss weg hier, werde nicht verlängern.“ Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 hatten wir überlegt, unseren Aufenthalt in Ruanda zu verlängern. Das wäre durchaus möglich und zu begründen gewesen. Tschernobyl: aus den Nachrichten war uns das Ausmaß der Katastrophe sofort klar. Später sollten Strahlenmessungen an Lebensmittel mein Job werden.
Zurück nach Mukoma: Meine Situation war deutlich schlimmer als ich geschrieben hatte, wahrscheinlich als mir bewußt war. Wenige Tage später, am 20. Juli 1986, schrieb meine Frau an meine Mutter, ich sei im Tropenheim in Tübingen. „Er war hier schwer krank. Manchmal hatte ich Angst, dass er mir sterben würde. Er hatte hohes Fieber, wahnsinige Kopfschmerzen, war sehr verwirrt. Als er dann noch anfing, Blut zu husten, habe ich ihm noch für den nächsten Tag ein Ticket besorgt. Ich hoffe, dass er die Reise gut überstanden hat. Der Arzt, der eine Flugunbedenklichkeitsbescheinigung ausstellen musste, war die ganze Zeit nervös …“
Diese Flugunbedenklichkeitsbescheinigung konnt ich aber gar nicht einsetzen, sonst hätte mich SABENA nicht mitgenommen. Am Flughafen musste ich möglichst aufrecht und möglichst unauffällig zum Flieger kommen, ohne Blut zu spucken. Wie ich dann zum Tropeninstitut gekommen bin, weiß ich nicht mehr. In Erinnerung habe ich einen Krankentransporter, vielleicht dann nach dem Umsteigen in Brüssel nach Frankfurt oder Stuttgart. Keine Ahnung.
Für das Tropeninstitut war ich ein interessanter Fall: Hepatitis C (damals noch nonA, nonB). + Malaria tropica + Boreliose + stille Feiung Trypanosomiasis (Schlafkrankheit) + Typhus exanthematicus (Fleckfieber). Zudem war ich immer noch extrem verwirrt.
Obwohl meine Frau bereits wusste, dass sie sich von mir trennen würde, rettete sie mir das Leben. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar!