Triggerwarnung Holocaust

Ein Kompromiss. Heute hängt vor den drei Holocaust-Räumen ein Schild, das darauf hinweist, dass der Holocaust kein Ponyhof war.

Die oder ich? Nur einer kann Recht haben. Überwältigen wir die Besucher mit „Hitler – wie konnte es geschehen“, oder sind Erwachsene in der Lage, sich selbst eine Meinung zu bilden, ohne von weichgespülten Museumspädagogen an die Hand genommen zu werden? Sind die Leute, die in den Gedenkstätten arbeiten, durch ihre universitäre Ausbildung und den „Beutelsbacher Konsens“ zu Weicheiern geworden, oder bin ich ein exzentrischer Gewaltverherrlicher?

Als ich mich auf dem Hof vor dem Berlin Story Bunker von zwei Ukrainerinnen verabschiede, kommt eine belgische Familie mit zwei jungen Teenagern auf mich zu. „Sind Sie das?“ Ja, das bin ich. Ich werde oft von Besuchern erkannt. „Wir waren jetzt eine Woche in Berlin, haben uns viele Museen und Gedenkstätten angesehen. Hier waren wir eben zuletzt – es ist der Höhepunkt unserer Reise. Jetzt haben wir endlich verstanden, wie alles zusammenhängt, wie es zum Nationalsozialismus und zum Holocaust kam.“ Ich kenne dieses Lob, bedanke mich und weise auf den Unterschied hin, dass wir genau und ausführlich sind, dass wir auf die Fragen der Besucher eingehen, also eine Art FAQ-Museum sind, vor allem aber: „Sie merken beim Besuch, dass es uns ein Anliegen ist. Wir haben diese Dokumentation gemacht, weil wir es wollen, haben, nicht weil es einen Job gab.“ Der bvelgier antwortet: „Ja, wir spüren ihr Engagement. Auch in der Ukraine. Das haben wir uns genau angesehen. Danke!“

Dann kommt der Leiter einer Gedenkstätte – angekündigt. Ich freue mich auf den Besuch im Allgemeinen und auf den Austausch im Besonderen. Es kommt, wie es kommen muss: Alles ist großartig, die Menge unserer Besucher kaum vorstellbar, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen würde, bis wir vor den Räumen zum Holocaust stehen.. Dort geht es in einem Raum um das Pogrom von Lemberg, damals Polen. Heute heißt die Stadt Lwiw und liegt in der Ukraine. Die Fotos von diesem Pogrom sind lebensgroß und schockierend:

– Eine dicke Frau, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt, liegt nackt auf der Straße. Sie wurde zu Boden getreten, will sich aufrichten. Ihre Brüste hängen herab, ihr Bauch lappt über. Sie weiß nicht, ob sie überleben wird.

– Ein dünnes Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, kauert nackt an der Bordsteinkante. Sie schaut um Hilfe flehend direkt in die Kamera. Wir blicken in ihre Augen. Sie denkt nicht einmal daran, ihre Brüste zu bedecken, so verstört ist sie.

– Ein Mann wird nackt über die Straße gehetzt. Sein Gesicht ist blutüberströmt.

Dann die Fotos von den hämischen Bewohnern der Stadt, die diese Jagd auf Juden veranstalten. Betrunkene. Jugendliche aus den Dörfern, die beim Massaker mitmischen wollen. Die Fotografen, die diese technisch perfekten Bilder von Menschen in Bewegung auf Film gebannt haben, sind nicht zu sehen.

Der Gedenkstättenleiter: „Das würde ich in meiner Ausstellung nicht zeigen. Auf keinen Fall! Der Besucher darf nicht emotional überwältigt werden. Wer als Besucher dermaßen von solchen Bildern indoktriniert wird, kann sich keine eigene Meinung bilden. Da gibt es keine Kontroverse. Eine freie Meinungsbildung ist gar nicht möglich.“

Diese Aussage hören wir nur und eigentlich ausschließlich von Fachbesuchern anderer deutscher Gedenkstätten, die den Beutelsbacher Konsens verinnerlicht haben. Das US-Holocaust-Museum in Washington beginnt mit einem wandgroßen Foto, das General Eisenhower vor einem Scheiterhaufen verbrannter Juden zeigt. Es scheint bei der Verbrennung etwas dazwischengekommen zu sein. Die Menschen sind nicht zu Ende verbrannt.Der Scheiterhaufen besteht aus Eisenbahnschienen. Der Ort heißt Ohrdruf. Es war ein Außenlager von Buchenwald: Die erste Begegnung Eisenhowers mit dem Holocaust fand in diesem Außenlager von Buchenwald statt.
Niemals, nicht ein einziges Mal, habe ich etwas von unzulässiger Überwältigung durch andere deutsche oder durch internationale Besucher gehört.Es geht leider noch weiter: Keiner der deutschen „Fachbesucher“ hat sich jemals die Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ wie ein normaler Besucher angesehen, also von Anfang an und mit Audioguide. Dann kommt man nämlich erst nach einer oder eher zwei Stunden in die Räume zum Holocaust. Diese normalen Besucher folgen der vorgegebenen Dramaturgie. Sie nehmen die Räume zum Holocaust ganz anders wahr, nämlich als zwangsläufige Folge des Nationalsozialismus. Auf die Spitze getrieben hat die Kritik der Leiter der Topographie des Terrors, der Rabbiner Andreas Nachama.

Gegenüber internationalen Medien sagte er, wir veranstalteten „Hitler-Disney“. Die Dokumentation im Bunker hat er allerdings weder vorher noch nachher besucht. Meine jüdischen Freunde, die ich vom Schießen beim TuS Makkabi kenne, konnten mir nicht sagen, wo in der jüdischen Glaubenslehre eine solche Niedertracht zu finden ist.

Unter den Hunderttausenden, die jedes Jahr kommen, gibt es immer wieder welche, die Ausstellungen zu diesem Thema in der ganzen Welt gesehen haben und sagen: „Das ist die beste von allen“. Das sind die aktuellen Kommentare auf Google:

Wie kommt es, dass die Menschen in anderen deutschen Gedenkstätten sich so dagegen sträubt, die Wahrheit zu zeigen, die Bilder der Erniedrigung und Entmenschlichung? Meiner Meinung nach aus zwei Gründen.

Erstens, weil man diese gedemütigten nackten Menschen nicht sehen will. Man bekommt Alpträume davon. Es wäre ungerecht oder vielleicht anmaßend von mir zu sagen: „Diese Gutmenschen waren noch nie im Krieg“. Man muss auch nicht im Krieg gewesen sein, um diese Grausamkeiten zu verabscheuen. Eigenes Erleben würde aber auch nicht schaden, wenn man in diesem Bereich arbeitet. Entweder man möchte gerne etwas mit eigenen Augen sehen, oder lieber nicht – aus Angst, vielleicht aus einer gewissen Feigheit heraus, wahrscheinlich aus der Vorliebe heraus, weiter im behüteten Leben zu bleiben. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust bleibt dadurch so akademisch, wie ich es bei einer Reise mit Historikern zu den deutschen Vernichtungslagern in Polen erlebt habe. Die Diskussionen drehten sich darum, welche Projekte man daraus machen könnte und wer sie finanzieren würde.

Ich will die öffentlich finanzierten Gedenkstätten nicht ganz schlecht machen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten sich auch mit etwas Schönerem beschäftigen. Ich bestreite nicht die Ernsthaftigkeit, sich für eine bessere Welt einzusetzen – wenn es die Arbeitszeit nicht zu sehr überschreitet. Die staatlichen Gedenkstätten können mit ihrer guten Ausstattung pädagogische Programme anbieten. Wir dagegen werden vom Kultursenat und vom Finanzamt als Vergnügungsbetrieb eingestuft und entsprechend besteuert. Sie leben von Steuergeldern. Wir zahlen Steuern.

Überwältigen wir die Besucher? Als Kurator trage ich die Verantwortung dafür, dass die geschundenen und gedemütigten Menschen gezeigt werden, die diesen Tag wahrscheinlich nicht überlebt haben. „Die Würde des Menschen“ müsse gewahrt bleiben, wird mir entgegengehalten. Mit unserer Darstellung würden die Opfer noch einmal gedemütigt. Das sehen alle jüdischen Organisationen anders, die die Ausstellung in der Berlin Story besucht haben; das sehen auch alle israelischen Botschafter anders, die sämtliche im Bunker waren, seit wir geöffnet haben. Richard Grenell, der amerikanische Botschafter, hat sich deutlich ausgedrückt: „Es gibt kein bisschen Nationalsozialismus. Er endet zwangsläufig so: Mit der Ermordung derer, die als Feinde oder Untermenschen angesehen werden: Juden, Homosexuelle, Slaven, politische Gegner.“

Der zweite Faktor, warum Mitarbeiter anderer deutscher Gedenkstätten so zurückhaltend sind, ist der Beutelsbacher Konsens, also die Vereinbarung der Gedenkstätten, was sein darf und was nicht. Ich halte das für eine Art Gehirnwäsche mit Weichspüler. Eine Kurzfassung des Beutelsbacher Konsenses findet sich bei Wikipedia. Zum Thema Kontroversität heißt es dort (gekürzt) „Das Gebot der Kontroversität (auch: Gegensätzlichkeit) zielt darauf ab, freie Meinungsbildung zu ermöglichen … Die eigene Meinung (der Lehrenden) und ihre politischen und theoretischen Positionen sind dabei unerheblich und dürfen nicht zur Überwältigung eingesetzt werden.“ Aber wir haben eine Meinung zum Nationalsozialismus, zum Holocaust, zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Mehr noch: Unsere Meinung und unsere Positionierung sind die eigentlichen Beweggründe, warum wir diese Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ machen.

Längere Ausführungen finden sich in dem Buch: „Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens“, herausgegeben von Benedikt Widmaier und Peter Zorn, kostenlos erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Auf den Seiten 246 ff sind die Essentials zusammengefasst: „Der Beutelsbacher Konsens ist das Fundament der pädagogischen Arbeit an Gedenkstätten … Besucherinnen und Besucher werden weder Täter- noch Opferperspektiven einnehmen. Jegliche Initiativen, die emotionale Überwältigung intendieren, sind zurückzuweisen … Eine Pädagogik des Mahnens und des ,Nie wieder’ ist nicht erforderlich. Besuchern soll durch multiperspektivische Darstellung die Möglichkeit gegeben werden, sich eine eigene Meinung zu bilden.“ Multiperspektivische Darstellung des Nationalsozialismus – was soll das heißen? „Die Vernichtung der Juden, welche Perspektiven kann man dazu einnehmen? Was war verbesserungswürdig, was ist schief gelaufen?“ Vielleicht so?

Weinen bildet nicht!“ So lautet einer der Kernsätze des Beutelsbacher Konsenses (Seite 246). Was für eine Arroganz! Jeden Tag sehe ich die Tränen von Besuchern. Man unterstellt diesen Frauen und Männern, dass sie nichts mitbekommen. Im Bunker werden sie oft zum ersten Mal damit konfrontiert, wie Behinderte ermordet werden, wie in Konzentrationslagern mit hungernden Kindern experimentiert wird, die dem Tod ins Auge sehen. Viele haben sich noch nicht damit auseinandergesetzt. Woher ich das weiß? Weil ich hinterher mit den Besucherinnen und Besuchern spreche. Weil ich mich nach ihren Eindrücken erkundige, mir erklären lasse, was in ihnen vorgegangen ist.

Die durchweg positiven Reaktionen, sowohl von Besuchern, für die das Thema neu ist, als auch von vorgebildeten Besuchern, führe ich darauf zurück, dass wir die Anfangszeit des Nationalsozialismus in allen Aspekten analytisch, verallgemeinernd darstellen: wie eine Diktatur entsteht. Und dass wir dann den Besuchern eindringlich zeigen, wohin das führt. Ich fühle mich dazu berechtigt, weil die Studien der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem genau zu diesem Ergebnis kommen: Was bleibt, sind nicht Fakten, sondern Gefühle.

Deshalb lassen wir die Besucher in letzter Konsequenz fast körperlich nachempfinden, wie Magda Goebbels, die Frau des Propagandaministers, ihre sechs Kinder im Führerbunker ermordet. In einem Abschiedsbrief an ihren Sohn aus erster Ehe begründet sie ihren Entschluss: Unsere herrliche Idee geht zugrunde, mit ihr alles, was ich Schönes, Bewundernswertes, Edles und Gutes in meinem Leben gekannt habe. Die Welt, die nach dem Führer und dem Nationalsozialismus kommt, ist nicht wert, darin zu leben, und deshalb habe ich auch die Kinder hierher mitgenommen. Sie sind zu schade für das nach uns kommende Leben, und ein gnädiger Gott wird mich verstehen, wenn ich selbst ihnen die Erlösung geben werde.“

Wir haben es mit erwachsenen Besuchern zu tun. Sie sind uns dankbar, wenn wir sie ernst nehmen und ihnen ihr eigenes Urteil zutrauen.

Warum, fragt mich mein Kollege Enno Lenze, regt Dich das so auf? Das ist doch nicht unsere Zielgruppe. Ja, woran liegt das eigentlich? Wahrscheinlich liegt es an der woken Ideologie, die mir auf die Nerven geht: Den Leuten soll nichts zugemutet werden. Sie sollen nicht mit Fakten konfrontierte werden. Lieber verhätscheln, wie in anderen Lebensbereichen auch. Nur dem Volk nichts zumuten. Immer schön stillhalten. Ich meine, daher kommt dieses neue Biedermeier, also das „Privat geht vor“, nichts für die Gesellschaft tun, lieber über die neuesten Streaming-Serien diskutieren. Wir dagegen muten unseren Besuchern wirklich viel zu. Und dafür ernten wir Dank.