Natalia, Hebamme – der erste Tag des Krieges in Odessa

Interview mit der Geburtshelferin Natalia am 18. Oktober 2024 in Odesa über ihre Arbeit, die Schwangeren und die gesellschaftliche Situation im Krieg.

 

 

 

Dies ist ein eindringliches historisches Dokument über das Leben einer alleinstehenden jungen Frau mit einer Tochter während des Krieges. „Ich kann die Verantwortung für die Schwangeren und die Geburten nicht einfach aufgeben. Das hatte ich mir vorgenommen, das ist mein Job, den Stress von den Schwangeren fernzuhalten. Deshalb bin ich in den ersten Kriegstagen nicht in Schockstarre verfallen, sondern habe mich mit anderen organisiert, mit der Gynäkologin Viktoriia. Es ist mir ein Bedürfnis, im Leben nützlich zu sein. Ich begleite Frauen bei der Geburt und zahle Steuern – Frauen, deren Männer an der Front sind.

Dann kam die Scheidung. Jetzt bin ich allein für meine neunjährige Tochter verantwortlich. Es scheint, dass Kinder sich an alles gewöhnen können. Trotz des Krieges haben wir jeden Tag die Chance, das Leben zu genießen. Für die Frauen ist es nicht einfach, wenn der Mann an der Front ist und sie das Kind ohne ihn zur Welt bringen müssen. Mir wurden inzwischen Stellen in mehreren Ländern angeboten.

Aber mein Platz ist hier, auch wenn die Raketen fliegen. Ja, das ist Stress, wenn man nachts aus dem zehnten Stock in den Luftschutzkeller muss, während die Tochter schläft – und man sieht aus dem Fenster, wie die Shahed-Drohnen kommen. Der ganze Himmel brennt, wenn sie abgeschossen werden. Ich fahre mit dem Fahrrad am Strand des Schwarzen Meeres entlang, die Sonne scheint, alles ist in Ordnung. Bis die Rakete kommt –ohne Vorwarnung.

Krieg ist ein Moment der Wahrheit für Beziehungen, er beschleunigt Prozesse. Warum sind wir zusammen? Wohin gehen wir? Bleiben wir zusammen? Und wenn es noch fünf Jahre dauert? Worauf können wir uns verlassen? Ich bin umgeben von Menschen, die ihren eigenen Weg gehen und bin dankbar, dass dies in unserem Land möglich ist. Als private Unternehmerin zahle ich Steuern, und es ist gut, dass das Land das zulässt.

Ich fühle mich frei und möchte hier bleiben, wo ich aufgewachsen bin, wo ich mein eigenes Ding machen kann. Ich spreche genauso gut Ukrainisch wie Russisch und antworte in der Sprache, in der ich gefragt werde. Wenn ich Deutsch, Englisch oder Spanisch könnte, würde ich in diesen Sprachen antworten. Ich will, dass der Krieg aufhört. Aber das ist eine rhetorische Frage. Unser Leben ist nicht endlos. Das einzige, was wir über die Zukunft wissen, ist, dass wir sterben werden. Ich sehe den Krieg als ein großes Spiel, das auf unserem Boden, in der Ukraine, gespielt wird. Auf unsere Kosten.

Mein Onkel war Gouverneur der Schlangeninsel und ist im Krieg verschollen, ein echter Patriot. Ich mag oder mochte ihn sehr. Ich habe ihn oft auf dieser majestätischen Insel besuchen dürfen. Wir wissen nicht, ob er tot ist. Die Hoffnung in unserer Familie lebt weiter.