Slava Ukraini – Das Museum und die Interviews

In diesem Buch kommen die Ukrainerinnen und Ukrainer ausführlich zu Wort. Wir stellen das russische Waffenarsenal vor, das wir im Ukraine Museum im Berlin Story Bunker zeigen. Im Mittelpunkt steht aber die Resilienz, die ungeheure Überlebenskraft der Ukrainer. Außerdem berichten wir über die Hilfsaktionen vom Berlin Story Bunker aus. Das Buch erscheint auf Deutsch, Ukrainisch und Englisch.

In 31 ausführlichen und persönlichen Interviews erzählen Kinder, Jugendliche und Erwachsene, wie sie den 24. Februar 2022, den ersten Tag des Krieges, erlebt haben, wie es ihnen heute geht und wie sie die Zukunft ihres Landes sehen. Kurz gesagt: Kämpfen bis zum Sieg über Putin. Welche Lösung sollte es sonst geben?

Im zweiten Teil des Buchs werden die Raketen, Cruise-Missiles und Drohnen erläutert, mit denen Putin die Ukraine als souveränen Staat auslöschen will.

Hauptausstellung im Berlin Story Bunker ist „Hitler – wie konnte es geschehen“. Der Holocaust-Überlebende Roman Schwarzmann hat in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag gesagt: „Hitler wollte mich umbringen, weil ich Jude bin. Putin will mich umbringen, weil ich Ukrainer bin.“



Vorwort Oktober 2025

Die Paradeuniformen lagen bereits in den Mannschaftstransportpanzern bereit. Etwas anderes als ein Sieg in diesem als Blitzkrieg geplantem Überfall war für die Russen nicht vorstellbar. Kyiv sollte nach 72 Stunden fallen und das faschistische System, das sich mit Hilfe der Amerikaner an die Macht geputscht hatte, sollte vertrieben oder eliminiert worden sein. So sah der Plan der Russen aus. So war es in ihren Köpfen verankert. Den „Befreiern” war unverständlich, dass sie nicht mit großer Herzlichkeit empfangen wurden. Wer sie nicht mit offenen Armen empfing, musste zu den Nazis gehören. Also besser, man murkst sie alle ab und nimmt ihre Waschmaschinen und Fernseher mit nach Burjatien, das sechstausend Kilometer von der Front entfernt liegt. So sah es in Butscha aus. 458 Leichen, erschossen, gefoltert oder erschlagen. Am Anfang waren Leichensäcke knapp. Wir haben 1000 Stück aus dem Berlin Story Bunker gebracht, hauptsächlich für die Territorialverteidigung. Alexej Yukov erläutert im Interview, was es bedeutet, Leichen zu bergen und deren Seelen zu den Familien zurückzubringen.

In ihren Interviews berichten Roman Sukhan und Danylo davon, was in Bucha geschah. Valentina und Jewgenja aus Hostomel hatten sogar russische Soldaten in ihren Wohnungen. Sie haben sich geekelt. Alex hat die Russen in Tschernihiv erlebt und Iwan war mit dem ganzen Dorf einen Monat lang in den Keller der Schule von Yahidne zusammengepfercht. Die Toten blieben neben den Kindern liegen, weil die Russen sie nicht hinausbringen und beerdigen ließen.

Enno Lenze war in Bucha, als erster, berichtete auf Twitter. Er wurde von Sandra Maischberger in die ARD-Talkshow eingeladen, sollte ganz schnell kommen, raste in zwei Tagen zurück nach Berlin – und wurde wenige Stunden vor der Sendung ausgeladen. Stattdessen kam Gregor Gysi, einst SED, also Sozialistische Einheitspartei der DDR, dann Linke, ein Putin-Propagandist durch und durch. Lenze bekam einige tausend Euro angeboten, wenn er die Klappe hielte über seine Ausladung. Allerdings: Die Ausstellungstafel über das Massaker von Butscha, bei Maischberger dann nicht Thema, hing am 4. April 2022 im Berlin Story Bunker.

Dieses Buch
Die Interviews entstanden Ende 2024 und im Mai 2025. Sie sind alle in voller Länge als Video auf Deutsch, Ukrainisch und teilweise auf Englisch auf www.BerlinStory-News.de zu sehen. Für das Buch haben wir daraus Lesetexte gemacht. Das heißt, wir haben sie aus dem Ukrainischen ins Deutsche übersetzt, daraus einen flüssig lesbaren Text gemacht und ihn dann wieder ins Ukrainische zurückübersetzt, damit die Interviewpartner ihn korrigieren oder autorisieren konnten. Karina Beigelzimer hat sich um die ukrainischen Texte gekümmert und insgesamt viel am Buch gearbeitet. Diese autorisierten Fassungen haben wir dann wieder ins Deutsche übersetzt. Jetzt hoffen wir, dass alles so im Buch steht, wie es die Interviewpartnerinnen und Interviewpartner ausgedrückt haben. Wir kennen sonst keine so ausführlichen und tiefgehenden Interviews. Allerdings haben wir einen Vergleich im Auge: das Buch „Warum ich Nazi wurde“, erschienen im Berlin Story Verlag. Darin schildern mehrere hundert Nationalsozialisten im Jahr 1934, also kurz nach der Machtergreifung, was sie so toll daran finden, Teil der Hitler-Bewegung zu sein. Das sind einzigartige Quellen auf mehr als 900 Seiten. Dadurch kann sich der Leser tiefer in die Gedankenwelt hineinversetzen als durch akademische Analysen. Komischer Vergleich, der aber die Bedeutung der Interviews in diesem Buch für die Zukunft deutlich macht. Diese Interviews sollen die Situation der Ukrainer in diesem Augenblick konservieren. Es sind historische Dokumente.

Der Berlin Story Bunker
Woher kennen wir all diese Menschen, mit denen wir gesprochen haben? Vor dem Krieg kannten wir keinen von ihnen. Generell könnte man sagen: politisches Interesse und Interesse an Menschen. Genauer gesagt fing es mit dem kaputten russischen Panzer an. Der T-72 war in der Schlacht um Kyiv zerstört worden. Wir stellten ihn am ersten Jahrestag des Krieges vor Moskaus Botschaft „Unter den Linden” in Berlin, in der Nähe des Brandenburger Tors. Putins Schrott vor seiner Botschaft. Die Medien der Welt berichteten. Dazu gibt es hier im Buch einen Beitrag. Wir lernten dabei viele Menschen kennen und man wurde auf uns aufmerksam.
Der Hintergrund ist jedoch die Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ im Berlin Story Bunker am Anhalter Bahnhof, Hitlers Regierungsbahnhof. Es handelt sich um die umfangreichste Ausstellung zum Nationalsozialismus. Dabei geht es vor allem darum, wie die nationalsozialistische Diktatur entstand – oder allgemeiner: wie eine Diktatur entsteht. Wir blättern das „Handbuch der Diktatoren” auf und unsere Besucher verstehen das. In ihren Köpfen läuft ein Film ab, der weit über den deutschen Nationalsozialismus hinausgeht. Wir werden immer wieder darauf angesprochen: „Wie bei Putin.“ Ja, wie bei Putin, nur ohne den Holocaust. Erst viel später brachte einer unserer Interviewpartner, der Holocaust-Überlebende Roman Schwarzman, das auf den Punkt. „Hitler wollte mich umbringen, weil ich Jude bin. Putin will mich umbringen, weil ich Ukrainer bin.“ So oder so ähnlich sagte er es im Januar 2025 auch vor dem Deutschen Bundestag. Das Interview mit ihm fehlt hier. Als wir ihn im Oktober 2024 in Odessa besuchten, war er sehr krank. Die Krankenschwester wollte nicht, dass wir im Krankenhaus ein Interview machten, ohne die Genehmigung des Generaldirektors vorweisen zu können. Eine abstruse Situation.
Durch den zerstörten russischen Panzer kamen die ersten Kontakte zum Nationalen Militärhistorischen Museum in Kyiv zustande. Wir wurden weitergereicht, fanden Freunde durch unsere Lieferungen an die Front oder wurden einfach auf der Straße oder im Bus angesprochen. Schließlich kennen wir viele Mitglieder der ukrainischen Diaspora in Berlin. Momentan arbeiten drei Ukrainerinnen im Bunker. Die Kontakte sind querbeet. Keine Bubble. Sie reichen von der Küsterin einer orthodoxen Kirche über eine Hebamme in Odessa bis zur stellvertretenden Verteidigungsministerin. Wir sprachen mit Kämpfern im Donbas, einen 24 Jahre alten Feuerwehrchef sowie Jugendliche und Kinder.

Das Ukraine Museum
Warum machen wir das Ukraine-Museum? Enno Lenze sagt: „Weil wir es können.” Alles begann im ersten Jahr des Krieges mit einer Sonderausstellung zu Memes – also den Karikaturen aus dem Internet, die den Feind lächerlich machen und die eigene Kampfkraft stärken. Dieser Spott gegenüber den Russen hat Spaß gemacht! Die Ausstellung hängt noch und wurde inzwischen von zahlreichen Ausstellungsorten in Deutschland sowie vom Militärhistorischen Museum in Kyiv übernommen. Auch die ukrainischen Militärs bekamen das mit und boten uns eine eindrucksvolle Ausstellung mit russischen Drohnen, Raketenteilen sowie viel Elektronik an. Diese war 2024 mehrere Monate im Berlin Story Bunker zu sehen. Die Berichte und Auswertungen der (durchweg westlichen) Elektronik finden sich hier im Buch, ausführlicher auf www.berlinstory-news.de, unserem Informationsdienst.
Die Exponate sind einzigartig – schon deswegen, weil das Museum einzigartig ist. Es ist das einzige außerhalb der Ukraine. Wir zeigen eine originale Drohne der Operation Spiderweb, Teile von russischen Marschflugkörpern vom Typ CH-101, einen Teil der geheimen Stealth-Drohne „Ochotnik”, von der es ursprünglich vier gab und jetzt nur noch drei, sowie Teile eines über der Schlangeninsel abgeschossenen russischen Kampfhelikopters vom Typ Ka-52.
Dazu kommt man nur, wenn man vor Ort ist. Das zentrale Exponat ist furchtbar, es ist kaum auszuhalten: Ein Fiat-Kleinbus, in dem ein junger Mann von einer russischen Drohne ermordet wurde. Mit seinem ebenfalls 27 Jahre alten Freund hatte sich Oleg zu Beginn des Krieges im Jahr 2022 entschlossen, in Cherson zu bleiben und eine Art Sozialtaxi zu betreiben, um alte Leute zum Arzt zu bringen oder Medikamente aufs Dorf zu liefern. Beide hätten in ihrem Alter die Ukraine verlassen können. Wir machen das Museum, weil wir die Helden des Freiheitskampfs gegen die Russen ehren wollen.

Die Geschichte der Ukraine
Die Geschichte der Ukraine sowohl im Museum als auch in diesem Buch darzustellen, wäre zu umfangreich und zu kompliziert. Nur so viel: Die Kyiver Rus wurde im 9. Jahrhundert erstmals als politisches Zentrum der Ostslawen erwähnt. Moskau erschien erst 250 Jahre später auf der Landkarte – als kleine Festung innerhalb eines Fürstentums. Zu dieser Zeit war Kyiv bereits das Zentrum eines großen und einflussreichen Staates.

Holomodor
Die Beziehung der Ukrainer zu den Russen ist bis heute durch den Holodomor geprägt. Der ukrainische Begriff Holodomor bedeutet „Tötung durch Hunger” und bezeichnet eine von der Sowjetunion unter Josef Stalin gezielt herbeigeführte Hungersnot in den Jahren 1932 bis 1933, durch die Millionen Ukrainer ihr Leben verloren. Der Holodomor war keine natürliche Katastrophe, sondern eine bewusste politische Entscheidung der stalinistischen Führung.
Um die Landwirtschaft zu „modernisieren” und zu zentralisieren, wurden die Bauern massiv gezwungen, ihr Land und Vieh in Kolchosen (landwirtschaftliche Großbetriebe) einzubringen. Dies stieß auf großen Widerstand, besonders bei den wohlhabenderen Bauern, den sogenannten „Kulaken”. Die ukrainischen Bauern waren für ihren Widerstand gegen diese Politik bekannt.
Getreidezwangsabgaben: Trotz schlechter Ernten und absehbarem Hunger verhängte das Stalin-Regime unrealistisch hohe Getreideabgaben, die die Bauern nicht erfüllen konnten. Die staatlichen Requirierungskommandos zogen auch die letzten Lebensmittelvorräte ein, wodurch die Menschen ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Das beschlagnahmte Getreide wurde ins Ausland exportiert, um die Industrialisierung der Sowjetunion zu finanzieren.
Die Unterdrückung der ukrainischen Identität: Historiker sind sich heute weitgehend einig, dass der Holodomor auch ein Instrument zur politischen Unterdrückung der ukrainischen Nation war. Stalin wollte den Widerstand der ukrainischen Bauern sowie die ukrainische Nationalbewegung zerschlagen, da er sie als Bedrohung für die sowjetische Einheit ansah.
Opferzahlen: Die Schätzungen über die Zahl der Opfer variieren, gehen aber von mindestens 3,5 bis 5 Millionen Toten aus. Das Sterben ereignete sich vor allem in ländlichen Gebieten, die oft von bewaffneten Einheiten abgeriegelt wurden, um eine Flucht der Hungernden zu verhindern.
Der Holodomor hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Ukraine eingeprägt und spielt eine zentrale Rolle für die nationale Identität. Während der Sowjetzeit war die Erinnerung an diese Katastrophe tabu, heute wird sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet.

Zweiter Weltkrieg
Die heutige Ukraine war im Zweiten Weltkrieg Schauplatz vieler massiver Kämpfe mit enorm hohen Opferzahlen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, Unternehmen Barbarossa, fand ab 1941 zu einem großen Teil auf dem Gebiet der Ukrainischen SSR statt. Die Ukraine bildete den südlichen Teil der Ostfront und war für die Wehrmacht von strategischer Bedeutung, vor allem aufgrund der fruchtbaren Böden („Kornkammer der Sowjetunion”) und der Kohle- und Eisenvorkommen im Donbas-Gebiet. Dies führte zu einigen der größten Kesselschlachten des Krieges.
Die Schlacht um Kiew (1941) war die größte Einkesselungsschlacht der Militärgeschichte. Die Wehrmacht umzingelte Hunderttausende sowjetische Soldaten, was zu enormen Verlusten und Gefangennahmen auf sowjetischer Seite führte. Ein Teil der ukrainischen Verteidigungsanlagen war noch erhalten und wurde beim Überfall Russlands am 22. Februar 2022 wieder aktiviert. Wir berichten darüber im Buch des Berlin Story Verlags vom Generalstab der Ukraine über die ersten Tage der Schlacht um Kyiv 2022.
Schlacht um Charkiw: Insgesamt gab es um die Stadt Charkiw vier größere Schlachten, die von 1941 bis 1943 stattfanden. Jede dieser Schlachten war extrem verlustreich.
Die Schlacht am Dnepr (1943) war eine der größten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Die Rote Armee eroberte das westliche Ufer des Dnepr und befreite Kiew. Dies stellte einen Wendepunkt im Krieg an der Ostfront dar.
Die Ukraine erlitt im Zweiten Weltkrieg unvorstellbare Verluste, die zu den höchsten aller beteiligten Länder gehörten. Schätzungen zufolge starben 5 bis 8 Millionen Menschen aus der ukrainischen Bevölkerung, darunter sowohl Zivilisten als auch Soldaten. Mehr als vier Millionen Zivilisten starben durch direkte Kriegshandlungen, Massaker und eine bewusste Vernichtungspolitik der nationalsozialistischen Besatzer. In der Ukraine fand ein wesentlicher Teil des „Holocaust by Bullets” statt. Allein im Massaker von Babyn Jar in Kiew wurden innerhalb von zwei Tagen fast 34.000 Juden ermordet. Insgesamt fielen rund 1,5 Millionen ukrainische Juden dem Holocaust zum Opfer. Etwa drei Millionen Ukrainer starben als Soldaten der Roten Armee oder anderer Armeen.

Referendum zur Unabhängigkeit 1991
Auf die Abstimmung zur Unabhängigkeit werden wir im Kapitel „Aber der russische Überfall hatte eine Vorgeschichte …” näher eingehen. Beim Referendum im Dezember 1991 sprachen sich 90,3 Prozent der Bevölkerung für die Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion aus. Die absoluten und prozentualen Zahlen sind für jedes Gebiet genau aufgeschlüsselt.

Budapester Memorandum 1994
Zum Zeitpunkt ihrer Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion verfügte die Ukraine über das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Die Kernaussage des Budapester Memorandums von 1994 besteht darin, dass die Ukraine im Austausch gegen Sicherheitsgarantien durch andere Atommächte auf ihr Atomwaffenarsenal verzichtete. Die Unterzeichnerstaaten Russland, die USA und Großbritannien verpflichteten sich darin, die Unabhängigkeit, Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren. Sie versprachen, keine Gewalt oder Androhung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit der Ukraine anzuwenden. Zudem sicherten sie zu, keinen wirtschaftlichen Zwang auszuüben, um die Ausübung der Souveränität der Ukraine zu beeinträchtigen. Das Abkommen wurde am 5. Dezember 1994 in Budapest von den Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, und der Russischen Föderation, Boris Jelzin, sowie von Bill Clinton (Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika) und dem britischen Premierminister John Major unterzeichnet. Zusätzlich gaben auch Frankreich und China separate Erklärungen zur Gewährleistung der Sicherheit der Ukraine ab.
All dies ist fest im kollektiven Bewusstsein der Ukrainer verankert. Beim Lesen oder Ansehen der Interviews ist es hilfreich, diese Fakten im Hinterkopf zu behalten.

„Der russisch Überfall hatte ja aber eine Vorgeschichte!“
Gerne argumentieren Menschen historisch, wenn sie sagen: „Aber das hatte ja auch eine Vorgeschichte.“ Damit meinen sie die angebliche NATO-Osterweiterung. Dem Argument mit der Vorgeschichte stimmen wir voll zu. Ein Beispiel ist der Hitler-Stalin-Pakt von 1939, als sich die beiden Diktatoren Polen teilten und es von West und Ost überfielen. Oder der Winterkrieg Stalins gegen Finnland 1939/1940, als er sich Karelien einverleibte. Die massenhaften Deportationen von Menschen aus den baltischen Staaten nach Sibirien – 1941 während des Zweiten Weltkriegs und noch lange danach. Hunderttausende wurden noch 1949 in der größten Welle von Deportationen nach Sibirien verschleppt. Auch die Zeugen Jehovas waren betroffen.
Der 17. Juni 1953 in der DDR, Ungarn 1956, Prag 1968 Prag, Afghanistan 1979 bis 1989, Tschetschenien 1999 bis 2009, das war Putins erste Brachialtat; dann Georgien 2008 und Syrien 2015. Ja, der Überfall auf die Ukraine hatte eine Vorgeschichte: den sowjetischen oder russischen Imperialismus. Wir gehen in diesem Buch ausführlich darauf ein.

Das Deutsch-sowjetisches Erdgas-Röhren-Geschäft
Im Berlin Story Bunker gehen wir an anderer Stelle auch auf die Vorgeschichte ein, nämlich im Museum „Deutschland heute“ auf das deutsch-sowjetische Erdgasgeschäft.
Wer hat die Russen stark gemacht? Wir. Nicht „der Westen“, sondern wir Westdeutschen mit dem Erdgasröhrengeschäft. Die deutsche Wirtschaft wollte billiges Gas aus Russland und lieferte den Russen im Gegenzug Röhren für Pipelines. Die Sowjetunion war zu dieser Zeit wirtschaftlich nicht in der Lage, die eigenen Rohstoffe zu erschließen.
Die SPD-Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt unterstützte diese Geschäfte. „Handel bringt Wandel“, lautete die Argumentation. Wenn enge Handelsbeziehungen die Länder verbinden, wird es keinen Krieg geben. Die andere Perspektive: Die Sowjetunion erhielt dadurch ungeahnte Mittel zur Aufrüstung. Hat niemand davor gewarnt? „Doch, ich!“, meldet sich Wieland Giebel zu Wort. Und die Amerikaner auch. Es gab massive Kritik an diesem Abkommen. Russland hielt die osteuropäischen Staaten einschließlich der DDR unter seiner Knute. Man könnte sagen, dass alle, die später in die NATO wollten, um sich vor dem russischen Imperialismus zu schützen, über Jahrzehnte unter den Russen litten.
Als Leonid Breschnew, das Staatsoberhaupt der UdSSR und Parteichef der KPdSU, zu Willy Brandt kam, gab es am 19. Mai 1973 in Dortmund eine Demonstration mit 5.000 Teilnehmern. Mehrere Hundert Menschen wurden festgenommen. Den Einsatz leitete Willi Weyer, der FDP-Innenminister des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, vom Hubschrauber aus. Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung” sprach von einer Bürgerkriegsübung der Polizei. Giebel kann sich so gut daran erinnern, weil die Straßenbahn, mit der er zur Demonstration gegen Breschnew fahren wollte, auf offener Strecke angehalten wurde und alle mitgenommen wurden, die „so aussahen“, also längere Haare hatten und einen Parka trugen. Sie wurden fotografiert und mussten Fingerabdrücke abgeben, bevor sie in den Bunker in der Sonnenstraße in Dortmund gebracht wurden. Erst am nächsten Nachmittag wurden die mehrere Hundert Festgenommenen in Mannschaftstransportwagen der Polizei weit außerhalb von Dortmund ausgesetzt. Es gab keinen Bus, sodass sie in die Zivilisation zurücklaufen mussten. Dieser Protest richtete sich genau gegen das Erdgas-Pipeline-Projekt, da klar war, dass die Sowjetunion dadurch aufrüsten konnte. Im Berlin Story Bunker gehen wir in der Ausstellung „Deutschland heute“ ausführlich auf diesen Ausgangspunkt der Handelsbeziehungen zur Finanzierung der Aufrüstung ein.
Da wäre zum Beispiel Bundeskanzler Willy Brandt von der SPD, den Sozialdemokraten, in Nordrhein-Westfalen die liberale FDP und heute Ralf Stegner von der SPD, über dessen Appeasement-Politik wir im Buch ein eigenes Kapitel haben. Sind das immer die gleichen Russlandfreunde? Leider nicht. Mehr als 16 Jahre unter Bundeskanzlerin Angela Merkel von der christlich-demokratischen CDU trugen zur weiteren Abhängigkeit von Russland und Putin bei. Nur die Amerikaner warnten konstant vor der Abhängigkeit von der UdSSR und Russland. Das war lange vor Fracking und Nord Stream 2. Es ist doch etwas mehr Geschichte geworden. Jede Ukrainerin, jeder Ukrainer hat das im Hinterkopf. Diese Erfahrungen sind kollektive, nationale Traumata.

Kampf gegen die russische Invasion
Kyiv und das ganze Land wurden in der Nacht zum 24. Februar 2022 bombardiert und mit Raketen beschossen. Hubschrauberstaffeln, Bomber und Mannschaftstransportflugzeuge stiegen auf und zweihunderttausend russische Soldaten fielen in das Land ein.
Putin hatte sich jedoch total verschätzt: Die Ukrainer kämpften um ihr Land, der Westen lieferte Waffen und Munition, Finnland und Schweden traten der NATO bei, die Amerikaner und Europäer stellten erhebliche Mittel bereit und ließen sich nicht spalten. Die ukrainische Regierung, der Generalstab und die Verwaltung blieben im Land. Belarus nahm nicht aktiv am Krieg teil und China unterstützte zunächst nur sehr zögerlich.
Die Russen haben alle großen Schlachten um Kyiv, Cherson und Charkiv verloren. Seitdem hängen sie im Donbass in einem Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg fest. Putin führt einen Low-Cost-Krieg, der zwar immer teurer wird, aber wie seine bisherigen Kriege schlecht vorbereitet ist. Der Verlust seiner Soldaten ist ihm egal. Wohnblocks, Krankenhäuser und Schulen werden bombardiert. Es handelt sich um reinen Terror gegen die Zivilbevölkerung. Wir, Enno Lenze und Wieland Giebel, haben das immer wieder bei unseren Besuchen in der Ukraine mit eigenen Augen gesehen.
Es ist der längste Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, und es war die wichtigste Schlacht in Europa, als Kyiv verteidigt wurde und die die Ukraine nicht fiel. Putins Ziel war die Kapitulation der Ukraine.
In diesem Zusammenhang ist das folgende Zitat aus seiner Rede zur Lage der Nation vom 25. April 2005 am bekanntesten und wird häufig zitiert: „Der Zerfall der Sowjetunion war die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts. Für das russische Volk wurde er zu einem echten Drama.“ In seiner Rede vom 21. Februar 2022, am Tag vor dem Überfall, sprach Putin von der angeblich fehlenden Staatlichkeit der Ukraine und ihrer historischen Einheit mit Russland. „Die Ukraine wurde voll und ganz von Russland erschaffen, genauer gesagt vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Auf diese Weise entstand das Territorium der sowjetischen Ukraine.“ In dieser Rede schwurbelt Putin, drückt aber klar aus, dass es die Ukraine als solche nicht gibt: „Das moderne, die historischen russischen Länder umfassende, vollständig von bolschewistischen, kommunistischen Russen geschaffene Gebiet der Ukraine ist der Grund, warum sie die historischen russischen Länder mit sich genommen hat, obwohl niemand die Absicht hatte, sie herauszugeben.“
Tatjana Voitenko aus Odessa im Interview: „Wir sahen Putins Rede. Danach war uns allen klar, dass der Krieg unvermeidlich war. Wir saßen einfach da und warteten.“
Die historische Begründung für den Angriff auf die Ukraine, in der er von den „historischen russischen Ländern“ spricht, ist eine direkte Folge der als „Katastrophe“ empfundenen Auflösung der Sowjetunion. Putin sieht es als seine Mission, Russland oder die Sowjetunion wieder in der Form zu etablieren, in der sie von Stalin hinterlassen wurden.
Stalin setzte eine Politik der Zentralisierung und Russifizierung durch. Unter seiner Herrschaft wurden ganze Völker, die als „Verräter” oder „unzuverlässig” galten, gewaltsam aus ihren Heimatgebieten deportiert. Beispiele hierfür sind die Deportationen der Wolgadeutschen, Tataren und Tschetschenen. Die russische Sprache wurde zur dominierenden Sprache und die russische Kultur als überlegen dargestellt. Lokale Kulturen wurden zunehmend unterdrückt und das Recht auf Selbstbestimmung existierte nur noch auf dem Papier. Stalin verfolgte Nationalisten und Intellektuelle, die sich für die Rechte ihrer Völker einsetzten.
Anastasia Wojnurowska, die im Alter von 25 Jahren in den Krieg zog, sagte dazu in ihrem Interview: „Die Russen kamen, um uns zu töten, um uns zu zerstören, unsere Werte, unsere Kultur, unseren Wunsch, uns frei und demokratisch weiterzuentwickeln, auch intellektuell. Aber die Russen haben nicht bedacht, dass wir Nachkommen der Kosaken sind. Wir werden unser Land verteidigen.“