Im Sommer 1989 war ich bei der taz, eigentlich im Bereich Umwelt, aber häufig in Ost-Berlin, weil die Anderen nicht mehr einreisen durften und ich viele Oppositionelle aus der Umweltbewegung kannte. Daher wusste ich auch von dem Treffen am 13. August 1989, dem Jahrestag des Mauerbaus.
Zuvor beobachtete ich, wie am Checkpoint Charlie, fast in Sichtweite der taz-Redaktion, Bierdosen, geöffnet und voll, vom Westen auf die DDR-Grenzer geworfen wurde und diese immer weiter ins das DDR-Abfertigungsgebäude getrieben wurden. Die nicht mehr ganz nüchternen Westler überschritten die weiß auf dem Boden markierte Sektorengrenze und drangen immer weiter Richtung Ost-Grenzern vor.
Ich fand das sensationell, konnte aber nicht darüber berichten, weil die anderen in der Redaktion meinten, das sei jedes Jahr so. Es hatte aber auch keiner einen Fuß vor die Tür gesetzt und geguckt, was da wirklich abging.
Dann reiste ich via Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin ein, zahlte mein DDR-Eintrittsgeld, wechselte 25 DM eins zu ein in wertlose Ostmark und suchte die Bekenntnis-Kirche. Die Plesser Straße war auf beiden Seiten voller Stasi-Leute, nicht verdeckt, sondern in kleinen Grüppchen, gut zu erkennen, als Abschreckungsmaßnahme.
Ich traf einige Freunde der Umweltbewegung, die mir auch erläutern konnte, wer bei der Versammlung welche Rolle spielte. In der Vorstellung der Teilnehmer lag der Fall der Mauer in weiter, aber erreichbarer Ferne. Oder, das war auch verankert, vielleicht ließe sich die DDR reformieren hin zu einem tatsächlichen, menschenfreundlichem Sozialismus. Völlig, völlig unvorstellbar, dass die Mauer in 88 Tagen auf sein würde, in weniger als drei Monaten.
Die Nachricht, dass sich die Opposition aus dem Schatten der Geschichte hervortraut und bei den nächsten Wahlen geschlossen gegen die SED anzutreten plante, war so bedeutend, dass sie am folgenden Tag auf Grundlage meines taz-Berichts – ich war der einzige anwesende Journalist – in der Tagesschau kam.
Die DDR-Opposition geht an den Start. Öffentlicher Aufruf in Ostberlin, eine identifizierbare Alternative für die nächste Wahl zu schaffen.
Sie wollten nicht ausreisen, sie wollten mit den Ausreisewillige nicht in einen Topf geworfen werden, sie wollen die DDR verändern. Und zwar noch vor den nächsten Wahlen zur Volkskammer in zwei Jahren. Die Flüsterpropaganda hatte gerufen, und 400 Menschen waren gekommen. Ort der Veranstaltung am Sonntagabend: der Gemeindesaal der Bekenntniskirche in Berlin Treptow, gleich gegenüber dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg. Der Physiker Doktor Hans-Jürgen Fischbeck ist erster Redner, er vertritt die innerkirchliche Gruppe „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“, und seine Botschaft ist der Aufruf an die DDR-Opposition, eine landesweite Sammlungsbewegung für die Erneuerung zu gründen, die eine “identifizierbare Alternative” bietet.
“Uns geht es nicht mehr darum, nur als Basisgruppen in allen Teilen der DDR zu überleben. Wir wollen deutlich machen, dass es hier Menschen gibt, die Ideen entwickeln, die Konzept zur Veränderung vorlegen können und die ansprechbar sind.“ Diese Bewegung soll bei der nächsten Wahl die Alternative bilden, auch wenn Sie sich jetzt nicht als Partei vom formieren kann.
Fischbeck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften, verdient sein Geld also außerhalb des Schutzraumes der Kirche. In der Kirche arbeitete er in vielen Funktionen: als Delegierter im konziliaren Prozess, in der Synode Berlin-Brandenburg, im Kuratorium der Evangelischen Akademie. Er ist Ansprechpartner und Bezugspunkt vielfältiger Bewegungen, als deren anerkannter Sprecher er an diesem Abend auftrat. Sein Vorschlag ist in einigen strategisch planenden Gruppierungen der rund 500 Basisinitiativen der DDR seit Monaten diskutiert worden und sollte eigentlich noch unter der Decke bleiben. Doch die Ausreisewelle ist auch für die Opposition, die im Lande bleiben will, eine Gefahr „wenn sich alle durch die enge Öffnung quetschen, bekommen die anderen keine Luft mehr“, und deshalb will man den Ausreisewilligen möglichst schnell eine Alternative aufzeigen. Das führt jetzt zur vorzeitigen Veröffentlichung des Vorschlags. Dabei will die Bewegung keine Untergrundstrukturen bilden, sondern von vornherein mit dem Anspruch auftreten, dass ihre Tätigkeit legal ist und innerhalb des sozialistischen Systems möglich sein muss .
Nach einer längeren Diskussion über die neuen Bewegungen und Entwicklungen in der UdSSR, in Polen und den Ungarn melden sich in dem Gemeindesaal zunächst diejenigen lautstark zu Wort, die das System für überhaupt nicht reformierbar halten: „Mit Verbrechern werden wir keinen Dialog führen“, heißt es da. Für diese kategorische Ablehnung gab es jedenfalls starken Applaus. Dennoch sind die Kräfteverhältnisse zwischen solchen Fundamentalisten und denjenigen, die den Dialog suchen, schwer abzuschätze. Letztere – darunter der Initiativkreis „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ und der Friedenskreis der Bartholomäusgemeinde – haben vor kurzem die Kirchenleitung in einem offenen Brief aufgefordert, „autorisierte Gesprächsrunden“ herbeizuführen: zwischen SED-gelenkten gesellschaftlichen Organisationen, der Kirche und den oppositionellen Gruppierung.
Auch für diese Position gab es im Publikum starken Beifall, als nämlich Gemeindepfarrer Dieter Ziebarth dafür plädierte, nicht auszugrenzen, Dialogbereitschaft zu zeigen und sich die Bewegung in den benachbarten Ländern Ländern genau anzusehen: “In Polen”, so argumentierte er “haben gesprächsbereit Kräfte in wenigen Jahren die Entwicklung vom Kriegsrecht zum runden Tisch vorantreiben können. Für unsere Oppositionelle Sammlungsbewegung müssen wir einen Grundkonsens finden, mit dem wir an die Öffentlichkeit treten können.”
„Noch eine solche Wahl darf es nicht geben!“ Die Wahlmanipulationen der Kommunalwahlen, an diesem Abend erneut diskutiert, stecken den Oppositionellen noch in den Knochen. Sie fühlen sich betrogen, konnten aber damals keine Alternative auf die Beine stellen .
Auf die Frage jüngerer Teilnehmer, warum Fischbeck persönlich erst so spät sein Coming-out hatte, ob der Sozialismus der DDR für ihn bisher undurchschaubar gewesen sei, antwortete der grauhaarige Physiker, alle hätten sich zu lange der Diktatur der Angst gebeugt. “Ich bin jetzt 50 Jahre. Gewusst habe ich schon lange, dass sich etwas ändern muss. Aber ich habe auch Angst gehabt. Erst vor ein paar Jahren habe ich Mut gefasst, öffentlich aufzutreten. Durch die Veränderungen in unseren sozialistischen Nachbarländern verändern sich auch für uns die Rahmenbedingunge.“ Fischbeck hatte zuvor ausführlich seine Kritik an den Zuständen in der DDR bekundet. Faktisch würden alle gesellschaftlich relevanten Positionen von der Partei besetzt. Die scheindemokratische Bestätigung erfolgt dann durch Wahlen ohne Gegenkandidat. Dieses Vorgehen werde mit dem Parteiprogramm („die Partei stärkt den Staat“) gerechtfertigt. Zunächst seien die Produktionsmittel verstaatlicht worden, dann die ganze Gesellschaft. Marx und Engels aber hätten keine verstaatlichte Gesellschaft gewollt, sondern genau das Gegenteil: ein langsames Absterben des Staates. “Der Staatssozialismus in dieser Form ist nicht vereinbar mit ehrlicher Offenheit, mit Glasnost. Nirgends außer im Neuen Deutschland steht geschrieben, dass der Sozialismus nur auf diese Weise zu erreichen ist.“ Die innere Öffnung der DDR sei auch der einzige Weg, die Mauer abzubauen .
Mitglieder verschiedener Oppositioneller Gruppen der DDR unterstrichen in der anschließenden Diskussion die Notwendigkeit, Lenins Frage “Was tun” jetzt auf die Tagesordnung zu setzen und die Voraussetzung für eine strukturierte Opposition umgehend zu schaffen
Wieland Giebel taz vom 15. August 1989
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