Heute vor 76 Jahren eroberte die sowjetische Armee den Anhalter Bahnhof, neben dem sich der Berlin Story Bunker befindet. Es berichten der Sowjetische Generalstab, ein 14-jähriges Hitler-Mädchen, Menschen aus dem Bunker sowie Hitlers selbst. Alles im Umkreis von 1000 Metern.
„Die Gebäude rund um den Anhalter Bahnhof waren bereits völlig zerstört, aber die Deutschen hörten nicht auf, sie wie irrsinnig zu verteidigen.“ So beschreibt der Bericht des Sowjetischen Generalstabs die Schlacht um Berlin. Heute vor 76 Jahren versuchten sowjetische Truppen, den Landwehrkanal zu überqueren und über den Anhalter Bahnhof zum Reichstag vorzudringen. „Am Morgen des 27. Aprils 1945 erreichten erste Einheiten des 29. Garde-Schützen-Korps der 82. Garde-Schützen-Kompanie vom Süden her den Landwehrkanal. Die Soldaten lagen unter ständigem Feuer aus einem befestigtem Gebäude in der Belle-Alliance-Straße.
Gegen 15 Uhr kämpften sich Einheiten des 242. Garde-Schützen-Regiments bis zur Möckernstraße, Ecke Wartenburgsstraße vor. Sie wurden vom Bahnviadukt entlang des Landwehrkanals [U1] aus beschossen. Anhaltendes Maschinengewehrfeuer sowie Artillerie aus dem Bereich Anhalter Bahnhof zwang die Einheiten zum Rückzug. Ein weiterer Versuch, an den Landwehrkanal zwischen Möckernstraße und Belle-Alliance heranzukommen, wurde ebenfalls von den Deutschen zurückgeschlagen. Als sich herausstellte, dass der Kanal mit dem Bahnviadukt darüber so nicht einzunehmen war, verlagerte der Divisionskommandeur die Einheiten und säuberte die Großbeerenstraße vom Feind. So wurde der Bereich südlich des Kanals gegenüber von Belle-Alliance (Mehringplatz) erreicht. Die Brücken waren gesprengt und der Kanal 30 bis 35 Meter breit. Die Wände waren mit einer mehrfachen Lage von Steinen und Ziegeln befestigt.“
Panzer können durch Flüsse fahren, aber nicht durch Kanäle mit gemauertem Ufer. Sowjetische Panzereinheiten überquerten den Kanal später auf Höhe der Alten Jakobstraße.
„Trotz ununterbrochenen Feuers versuchten die Truppen, den Landwehrkanal zu überqueren.“ Sie wurden weiterhin zurückgeschlagen, weil sich die Deutschen in einem Gebäude verschanzt hatten, an dessen Stelle heute die SPD-Zentrale steht. „Die Deutschen“, das waren Soldaten der Wehrmacht, SS-Männer, Hitlerjugen und ein letztes Aufgebot an alten Männern. Deren Bewaffnung bestand aus Restbeständen, zufällig passender Munition. Es gab keine klare Kommandostruktur mehr. Einheiten oder versprengte Gruppen der Wehrmacht – oder was davon übrig war – konnten nicht mehr miteinander kommunizieren. Die in der Saarlandstraße (1935 bis 1947, heute Stresemannstraße, früher Königgrätzer Straße) wussten nicht, ob eine Ecke weiter, in der Bernburger Straße, noch eigene Leute waren und man sich notfalls dorthin zurückziehen könnte, erinnert sich die damals 14-jährige Johanna Ruf.
„Unsere Artillerie“, berichtet der Sowjetische Generalstab, „erreichte das südliche Ufer des Landwehrkanals und half der Infanterie mit starker Feuerunterstützung. Danke der M-31 Mörser wurde der Stützpunkt des Feinds an der Ecke Saarlandstraße vollkommen zerstört. Erste Einheiten des 242. Garde-Schützen-Regiments konnten auf die andere Seite des Landwehrkanals bis zur Halleschen Straße vordringen.“
Den gleichen Moment erlebt der Berliner Verleger Curt Cowall im bereits von den Sowjets eroberten Süden Berlins. In seinem im Berlin Story Verlag erschienenem Tagebuch notiert er am Tag 7 der Schlacht um Berlin: „Seit 4 Uhr größtes Kampfgelärm um uns. Die Russen sind überall vorwärtsgekommen. Sie sind oben in der Delbrückstraße, also 500 m von hier, vorn nach Halensee zu wird gekämpft und besonders schon in Wilmersdorf, sodass sie in Kürze auf dem Kurfürstendamm sein werden. Dort nehmen sie die Panzersperren von der Seite, die für den Alten Fritzen gebaut sind. – Ja, was würde wohl der Alte Fritz dazu sagen? – Es ist nun ganz klar, dass die Russen am 1. Mai ihre große Siegesparade in Berlin feiern können. Stalin spricht dann vom Balkon der Reichskanzlei … Verflucht – kracht das hier um unser Haus. Wir sind hier so richtig eingekesselt. – Mein Bruder Gerhard ist in Wilmersdorf beim Kraftfahrpark. Dort toben schwere Kämpfe. Ich sende ein stilles Gebet zum Himmel für ihn, dass er gut aus diesem Wahnsinn herauskommt. – Ja, so kämpft Herr Hitler bis zum letzten Deutschen (…).“ Der Verlag Cowalls in der Ritterstraße in Kreuzberg war vorher bereits durch amerikanische Bomben zerstört worden.
Zurück zum Landwehrkanal: Nachdem dieses Gebäude am Ort der heutigen SPD-Zentrale durch sowjetische Artillerie völlig zerstört worden war, konnten die sowjetischen Truppen vorwärts drängen. Konnten sie nicht. „Vor den weiteren Angriffen unserer Truppen wurde das Gebiet bis zum Anhalter Bahnhof durch ständige Luftangriffe unter Feuer genommen. Sowie die ersten Einheiten der 82. Garde-Schützen- Division den Landwehrkanal überquert hatten, bombardierte ein Geschwader Pe-2 das Gebiet, und starkes Artilleriefeuer nahm den Bahnhof unter ständigen Beschuss. Die Gebäude auf allen Seiten des Bahnhofs waren vollständig zerstört. Die Deutschen verteidigten weiter von Dächern und Balkons aus, sie hatten Maschinengewehre sowie automatische Waffen. Scharfschützen lehnten sich aus Fenstern.
Kindersoldaten
Zur gleichen Zeit wurden von den Deutschen Kinder in den Krieg getrieben. Die 14-jährige Johann Ruf notiert in ihrem Tagebuch, einem Schulheft: Freitag, 27. April 1945. „Gegen drei Uhr morgens werden wir geweckt, draußen ist es totenstill. Wieder ziehen wir grüppchenweise los. Wir wollen zum Thomas-Keller [Lokal im Hotel Excelsior] am Anhalter Bahnhof. Wieder haben wir Fahrräder mit, darauf unsere Lebensmittelreserven. Und trotz der ernsten Lage müssen wir lachen, als der Inge plötzlich der Zuckersack platzt, es sieht zu komisch aus. Der Ari-Beschuss liegt jetzt direkt zwischen dem Anhalter Bahnhof und dem Potsdamer Platz, und ausgerechnet das ist unser Weg. Wir liegen mehr auf der Straße, als wir laufen, aber irgendwie kommen doch alle heil durch. Nicht lange, nachdem wir ohne einen Kratzer den Thomas-Keller erreicht haben, stellen die Russen den Beschuss ein. Das hätte man wissen müssen. [Die ersten sowjetischen Truppen kommen 500 bis 600 Meter entfernt über den Landwehrkanal].
Hier im Thomas-Keller liegt der Rest der SS-Panzerdivision „Nordland“… Gegen zehn Uhr nachts kommt von irgendwoher die Meldung, dass die ersten russischen Panzer am Anhalter Bahnhof sein sollen. Und wir sitzen ein paar Meter weiter mit der SS zusammen … Wir packen in Eile die nötigsten Sachen. Die Räder müssen wir schweren Herzens zurücklassen, dann gehen wir durch einen Notausgang nach oben. Draußen sieht es furchtbar aus: der Bahnhof brennt, die Ari schießt wieder stärker, Tiefflieger kommen ohne Unterbrechung. Aber was bleibt uns übrig? Hier können wir nicht bleiben. Wir müssen es wagen. Wir dürfen den Russen so nicht in die Hände fallen, dreißig Mädel, so nicht.
Die Tiefflieger schießen wie verrückt. Ich habe das Denken völlig abgeschaltet … Dann sollen wir rüber zur Reichskanzlei … Wie ich über den Wilhelmplatz gekommen bin, weiß ich nicht, der Film ist hier kurz gerissen … Die Reichskanzlei ist Hauptverbandsplatz geworden.“[Persönliche Anmerkung: Vorgestern habe ich mit Johanna Ruf telefoniert. Sie war später Krankenschwester, hat neulich 2x Biontec bekommen und ist damit zufrieden. Mit der ganzen Impforganisation allerdings nicht.]
Der Hauptverbandsplatz der Reichskanzlei war durch einen Tunnel mit Hitler im Führerbunker verbunden. Dort hatte gerade der Verbindungsoffizier der SS, Hermann Fegelein, ohne Erlaubnis das unterirdische Hauptquartier verlassen. Hitler ließ ihn in seiner Wohnung in Charlottenburg verhaften, wo er einen Koffer voller Schmuck sowie Geld aufbewahrte und in Begleitung einer Freundin angetroffen wurde, während seine Ehefrau, die hochschwangere Schwester von Eva Braun, in Berchtesgaden weilte. Fegelein wurde in die Reichskanzlei gebracht und nicht lange darauf im Garten standrechtlich erschossen. Das Kind wurde am 5. Mai 1945 geboren …
Bleiben wir noch einen Moment bei Hitler: Die letzte Nachricht, die den Führerbunker aus der großen weiten Welt erreichte, war ein weiterer Tiefschlag; Hitlers früheres Vorbild Benito Mussolini war auf der Flucht in Norditalien von Partisanen aufgegriffen, in einem Dorf bei Como erschossen und an einer Tankstelle in Mailand kopfüber aufgehängt worden. Das gleiche Schicksal traf die Geliebte des ehemaligen Faschistenführers, Clara Petacci. Hitler reagierte darauf mit der Ankündigung des eigenen Selbstmords: »Ich will dem Feind weder tot noch lebendig in die Hand fallen. Nach meinem Ende soll mein Körper verbrannt werden und so für immer unentdeckt bleiben.“
Andere Sorgen hatten die Menschen im Anhalter Bunker. Er war geplant für 3.500, jetzt quetschten sich stehend, weil es keine Sitzgelegenheiten gab, 12.000 Menschen bei ständig steigenden Temperaturen. „Es sprach sei schnell herum, dass wegen des Wassermangels sämtliche Toiletten nicht mehr zu benutzen waren, und was dann kann, war eine der größten Gefahren. Die Notdurft wurde nun auf den Treppen, in jeder Nische verrichtet und verpestete die ohnehin karge Luft. Unheildrohend lauerte die Seuche im Hintergrund … Manche zogen es vor, diesem Ende vorzugreifen wie jenes Ehepaar, das sich in der Toilette aufgehängt hatte.“
Der Anhalter Bunker wurde dann in den frühen Morgenstunden des 2. Mai 1945 durch die SS geräumt. 12.000 Menschen mussten durch die Tunnel der S1 über Schutt, Schrott und Leichen Richtung Oranienburger Tor laufen. Obwohl die sowjetische Armee zu der Zeit bereits den Reichstag eingenommen hatte, sprengten fanatisierte SS-Leute den S1-Tunnel unter dem Landwehrkanal und setzten das komplette Bahntunnelsystem in der Mitte Berlins unter Wasser.
Während die sowjetischen Truppen nur wenige hundert Meter entfernt waren, aber vom Führerbunker nichts ahtnen, zog Hitler dort an diesem 28. April 1945 sein Resümee: „Nur mein Hund und Fräulein Braun halten mir die letzte Treue. Wenn der Krieg verloren geht, ist es vollkommen egal, wenn das Volk mit untergeht. Ich könnte darüber keine Träne weinen, denn es hätte nichts anders verdient.“ Spät am Abend dieses Tages heiratet er Fräulein Braun und macht sie zu Eva Hitler.
Die sowjetischen Truppen brauchten nach eigenen Angaben für die achthundert Meter vom Landwehr Kanal bis zum Anhalter Bahnhof noch bis zum Abend dieses 28. April 1945. „Die Ruinen des Bahnhofs wurden vom 242. Garde-Schützen-Regiment im Sturm genommen. Der 61. Schützen Division der 28. Armee wurde befehligt, bis zum Abend des 28. April 1945 das Gebiet zwischen Landwehrkanal und Flottwellstraße [südliche des Kanals am heutigen Gleisdreieck-Park] sowie der Woyrschstraße [Genthiner Straße] zu sichern.“
Das Oberkommando der Wehrmacht gibt in diesem Augenblick am 28. April 1945 bekannt:
„Heroischer Kampf um die Reichshauptstadt. In dem heroischen Kampf der Stadt Berlin kommt noch einmal vor aller Welt der Schicksalskampf des deutschen Volkes gegen den Bolschewismus zum Ausdruck. Während in einem in der neuen Geschichte einmaligen, grandiosen Ringen die Hauptstadt verteidigt wird, haben unsere Truppen an der Elbe den Amerikanern den Rücken gekehrt, um von außen her im Angriff die Verteidiger von Berlin zu entlasten. In den inneren Verteidigungsring ist der Feind von Norden her in Charlottenburg und von Süden her über das Tempelhofer Feld eingebrochen. Am Halleschen Tor, am Schlesischen Bahnhof und am Alexanderplatz hat der Kampf um den Stadtkern begonnen. Die Ost-West-Achse liegt unter schwerem Feuer.“
Wenig später kam dem Anhalter Bahnhof eine völlig andere Rolle zu: Etwa acht Monate später kamen die ersten irischen Lieferungen von Lebensmitteln im Anhalter Bahnhof an. Der Zug brauchte drei Tage, um von Basel aus nach Berlin zu kommen. Das Abkommen mit den Sowjets war von Dr. August Lindt, Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und aus der Familie des Schweizer Schokoladenherstellers ausgehandelt worden. Der stellvertretende sowjetische Leiter der SMAD war zu der Zeit Generalleutnant Mikhail Dratwin. Die Ankunft der irischen Lieferungen wurde von allen Besatzungsmächten und der Presse begrüßt. Während des Entladens der Lieferungen verhaften die US-Armee und die Berliner Polizei jedoch 52 Arbeiter wegen Diebstahls. Der Hunger führte bei vielen, nicht nur in Deutschland, zu einer Verhaltensänderung.
Das Buch von Jérôme aan de Wiel von der Universität Cork in Irland dazu erscheint im Oktober 2021 bei Central European University Press in Budapest. „Ireland’s Helping Hand to Europe, 1945-1950; Combatting Hunger from Normandy to Tirana.“
Es beschreibt, wie Irland Hunderte und Aberhunderte von Tonnen an Hilfsgütern schickte, um hungernden und notleidenden Europäern, darunter auch Deutschen, zu helfen. Im Buch gibt es zwei Kapitel über Deutschland. Im ersten geht es um die irische Hilfe in den westlichen Besatzungszonen. Das zweite befasst sich speziell mit Berlin und der sowjetisch besetzten Zone. Irische Hilfsgüter waren die ersten nicht-alliierten ausländischen Hilfsgüter, die nach der Vereinbarung mit den Sowjets (SMAD) in allen vier Sektoren Berlins verteilt wurden. Die ersten irischen Hilfsgüter trafen im Januar 1946 nach einer ereignisreichen dreitägigen Zugfahrt von Basel (Internationales Rotes Kreuz) im Anhalter Bahnhof ein. Irische Hilfsgüter waren auch die ersten nicht-alliierten ausländischen Hilfsgüter, die in Ostdeutschland verteilt wurden, von Leipzig bis zum Erzgebirge und von Dresden bis Rügen. Das wird im Buch durch zahlreiche Fotos und Briefe von Deutschen und besonders Berlinern dokumentiert, die Irland für die erhaltenen Geschenke danken. Dieses Großereignis der humanitären Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist völlig unbekannt, da es von der massiven amerikanischen Hilfe überschattet wird.
Quellen: Abbildungen aus dem National Archives, Washington. Der Bericht des Sowjetischen Generalstabs erschien Englisch unter dem Titel „The Berlin Operation 1945“, herausgegeben von Richard W. Harrison. Alle zitierten Bücher stammen aus dem Berlin Story Verlag und sind lieferbar. Hier kann man sie bestellen.