Selma Fenner – meine Mutter

Was bleibt von einem Leben? Meine Mutter hat sehr viel geschrieben: Ihr erstes handschriftliches Tagebuch fängt mit mir an, weil ich ihr erstes Kind war. Ihre ersten sechs handschriftlichen Tagebücher mit zahlreichen Fotos sind gescannt. Der Vorteil: Man ist als Leser ganz dicht dran, man ist ihrer Schrift, ihren Gefühlen nahe. Nachteil: Diese Texte sind nicht automatisch zu übersetzen und deswegen für die weit verzweigte Familie in anderen Ländern nicht zu lesen. Es ist mir zu viel Arbeit, sie digital zu erfassen.

Aber die Erinnerungen an ihre Jugend in der Zeit des Nationalsozialismus in der kleinen Stadt Schmalkalden in Thüringen hat Selma mit der Schreibmaschine geschrieben. Das war dann einfacher zu digitalisieren. Der Nachteil: es sind Betrachtungen im Nachhinein, mit etwas Distanz zu der Zeit. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Selma beim Schreiben Political Correctness im Kopf hatte. Sie war damals schon als Kind gegen die Nazis und war es ihr ganzes Leben lang. Wie sie dann an ihren Mann gekommen ist oder es mit ihm ausgehalten hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Mein Vater hatte die „Deutsche Nationalzeitung“ bis zu seinem Lebensende abonniert, ein Naziblatt.

Eigentlich hat meine Mutter ziemliches Glück mit ihrem Leben gehabt. Die Kindheit in Schmalkalden könnte man als idyllisch bezeichnen. Ihre Eltern ermutigten die Kinder, vertrauten ihnen und gaben ihnen großen Spielraum. Als der Zweite Weltkrieg 1945 zu Ende ging, war Selma zwanzig Jahre alt. Nach meiner Geburt 1950 verlor sie im Sommer 1952 im Krankenhaus das zweite Kind. Die überfällige Geburt wurde nicht eingeleitet, das Kind starb im Mutterleib, weil sich desinteressierte Schwestern nicht darum kümmerten und viele Ärzte aus der DDR bereits in den Westen geflohen waren. Dieses Schicksal führte zur Flucht, aber auch die Zweite Parteikonferenz der SED, nach der in der DDR jetzt „der Sozialismus planmäßig aufgebaut werden“ sollte – mit Volldampf in die Krise. Die DDR-Regierung kappte am 26. Mai 1952 alle Telefonverbindungen nach West-Berlin und richtete eine 5 km-Sperrzone mit einem 10 Meter breiten Kontrollstreifen entlang der Demarkationslinie zur Bundesrepublik ein. Es stand, so vermuteten viele, der Umbau in einen Satellitenstaat der Sowjetunion bevor. Mein Vater sollte zur Parteischule der SED. Nichts wie weg.

Das und die folgende schwierige Zeit kommt in Selmas Berichten nicht so genau vor. In Westen, in Kassel, wohnten sie bei den Schwiegereltern – sieben Personen in drei Zimmern. Diese kamen aus dem Sudetenland, waren beide der NSDAP beigetreten, sobald das möglich war. Weil Verwandte das nicht wahrhaben wollten, habe ich mir die Mitgliedsbescheinigungen kommen lassen. Dank den deutschen Archiven! Von ihrer Schwiegermutter wurde Selma beschuldigt, Geld gestohlen zu haben, zog mit ihrem Mann aus: „Deine Mutter oder ich!“  – und hielt dennoch ihr Leben lang Kontakt zu den Schwiegereltern. Es stellte sich dann bald heraus, dass ein Bruder meines Vaters geklaut hatte, ein katholischer Messdiener.

1956 zogen Selmas Eltern von Schmalkalden nach Kassel, ein Rückhalt für meine Mutter. Sie mussten den überwiegenden Teil ihres Hab und Gut im Osten lassen. 1960 bauten meine Eltern ein Haus in Kassel. Selma fühlte sich im Garten wohl. 1979 starb mein Vater, sie lebte noch 42 überwiegend glückliche Jahre. Als ich sie fragte, ob sie nicht nach Berlin kommen wolle, kam das JA so schnell, dass ich vermutete, sie habe schon lange auf diese Frage gewartet. Komisch: In Berlin entschied sie sich spontan für eine Wohnung im 15. Stockwerk eines Hochhauses mit Blick über die Stadt bis zum Teufelsberg – ohne Garten.

Überwiegend glücklich Jahre, weil schleichend Alzheimer anfing und sich ihr mehr und mehr ermächtigte. Furchtbar. „Ich möchte gerne, dass es ‚knacks‘ macht und mein Kopf wieder in Ordnung ist.“

So wie ich diese Seite wielandgiebel.de allmählich fülle, mit aktuellen Ereignissen, aber auch mit Geschichten von früher, will ich es auch mit selmafenner.de machen. Jetzt, Anfang 2024, ist ja eine ganz schöne Struktur vorhanden und ich kann allmählich ergänzen. Der Stapel an Berichten, die ich dafür ausgewählt habe, ist 30 bis 40 Zentimeter hoch.

Was bleibt von einem Leben? Erstaunlich viel. Denn Selmas Berichte ermöglichen ein lebendiges Bild der Zeit, ihrer Familie und auch ihrer Gefühle.