Am 25. August 1977 verschwand ich von der Bildfläche. Für die Außenwelt war ich einfach weg, tagelang verschwunden. Meine Frau war schwanger mit dem ersten Kind. Ich war von Belfast abgeflogen, wollte in London Heathrow umsteigen und kam in Düsseldorf nicht an. Recherchen der Financial Times kamen der Sache erst nach sechs Tagen näher: ich saß im Knast. Die Journalisten witterten eine gute Story. Das ahnte ich nicht. Auch nicht, dass Republican News über mich berichtete, die Zeitung der IRA/Sinn Fein.
Aus meiner Perspektive war es so, dass mich mein Freund Ronnie Bunting mit seiner Familie zum Flughafen Belfast gebracht hatte. Vorher lungerten britische Soldaten um sein Reihenhaus herum.
Auf dem Weg zum Flughafen in Belfast wurden wir an drei Checkpoints gründlich kontrolliert: jeweils aussteigen, Kofferraum auf, Papiere, Flugtickets.
Bei der Landung in Heathrow an der Passkontrolle standen zwei Männer hinter mir und ab ging es durch viele Gänge in den Verhörraum: Woher kommen Sie? Wo sind Sie eingereist? Wann? Wo waren Sie? Wo haben Sie die erste Nacht geschlafen? Und dann? Wen haben Sie getroffen? In welchen Pubs waren Sie? In welchen Community Centren? Kennen Sie Ronnie Bunting? „Ach, by the way, wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnten Sie bitte hier einzeln, ja erst die Finger der rechten Hand, dann die der linken, jetzt die beiden Daumen. Sehr nett, danke … Leider haben wir hier keine Zelle frei, die werden gerade renoviert, deswegen kommen Sie in die Polizeistation in der Nähe. Das ist Ihr Zettel, Sie sind übrigens der erste Ausländer, den wir aufgrund des Prevention of Terrorism Act 1976 festnehmen.“
Die nächsten Tage vergingen mit Verhören, meist zwei am Tag über mehrere Stunden. Vor allem sollte ich mich daran erinnern, wen ich alles getroffen hatte. Dazu fiel mir leider kaum etwas ein. Dann kam die Geschichte mit dem bösen Bullen und dem guten Bullen, der mir helfen wollte, wenn ich ihm alles erzähle.
Vor allem ging es darum, genau zu erfahren, wer mit mir über Misshandlung und Folter gesprochen hat, was ich gesehen habe und welche Berichte mir Father Denis Faul und die Association for legal justice gegeben hat. Freie Berichterstattung lag ihnen nicht am Herzen. Es erinnerte mich eher an den Umgang diktatorischer Systeme mit Journalisten. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es so wenige Journalisten gab, die sich darum kümmerten, die vor Ort waren und nicht die Meldungen der Pressestelle der britischen Army als Quelle ihres Wissen nutzten.
Für die Polizisten der Polizeistation, zu der ich gebracht wurde, war das mit solchen Gefangenen neu. Die hatten sonst eher Betrunkene oder Kleinkriminelle. Ich hörte abends durch die Zellenluke immer Karnevalmusik und Marching Bands. In der Nähe fand Notting Hill Carneval statt. Einmal legten sie mir freundlicherweise einen Softporno in die Zelle. Den ließ ich lieber unberührt.
Jede halbe Stunde klapperte laut der Metallverschluss vor dem Guckloch. Schlafentzug, weiße Folter. Das ist echt anstrengend, weil man sich dann beim Verhör nicht mehr konzentrieren kann. Ich hatte die Berichte über die Folter der britischen Armee an Republikanern in Nordirland bei mir, die mir Father Denis Faul gegeben hatte, ein katholischer Priester. Diese Berichte waren mir vorher schon einmal bei einer nächtlichen Straßenkontrolle vorübergehend weggenommen worden. Ich hatte sie – naiv – auf dem Rücksitz liegen.
Folter? Ja, ja, Misshandlungen und echte Folter, nicht nur Schlafentzug.
Was sich alles in den Verhören abspielte, schildere ich in meinem Buch „Das kurze Leben des Brian Stewart.“ Brian war 13 Jahre alt. Ich kannte ihn. Er kam durch ein Plastikgeschoss der britischen Armee um. Manche meinen, das sei Mord gewesenen. Ich habe seine Mutter und die Familie nachher mehrmals besucht.
Nach sieben Tagen kam ich frei, wurde bis an die Gangway chauffiert und von zwei Polizisten hinauf begleitet, bis ich im Flugzeug saß. Leider gibt es davon kein Video, es war aber filmreif.
Beim nächsten Mal kam ein historisches Gesetz zur Anwendung, Aliens Act 1935 mit der Notice of refusal of leave to land. Das war auch nicht in Großbritannien, sondern in der Republik Irland, einem anderen, unabhängigen Staat, seit 1973 Mitglied in der EU.
Am 19. Dezember 1978 empfing uns James Doran bei der Einreise in Dublin. „Sind Sie Wieland Giebel?“ Da war ich doch überrascht. Ein ganz anderes Land, die Republik Irland. Und die wussten Bescheid?! Ich hatte nur zwei Stunden vorher in Belfast angerufen, also im britischen Nordirland, dass ich komme. Gegenüber von Belfast auf der anderen Seite der Irischen See in Schottland gab es eine Telefonabhörzentrale, 600 Mitarbeiter rund um die Uhr. Ich dachte: Verschwörungstheorie. Das kann ja nicht sein. Ich hatte mich geirrt, die saßen da wirklich und hörten live mit.
Till war inzwischen geboren, noch nicht gut zu Fuß, aber er konnte in affenartiger Geschwindigkeit krabbeln: Immer unter den Absperrungen durch – die Polizisten hinterher – dann guckt er, ob sie ihn auch finden, wurde zurückgebracht und fing von vorne an. Eine Gaudi. Jedenfalls bis wir in einen Raum gebracht wurden, der von außen eine Klinke und von innen einen Knauf hatte. Schluss mit lustig. Er wurde später mit meiner Frau ins Hotel gebracht und ich in den Knast. Wieder Klavierspielen, also alle Fingerabdrücke rechts und links.
Dann der Zettel zur Festnahme. „Mountjoy Prison.“ Echt? Komme ich da hin? Die Polizisten dachten, ich wäre durchgedreht. Mountjoy [1850], das ist eine Ehre, das ist eine Veredelung des Daseins, der höchste Grad der Anerkennung. Womit hatte ich das verdient? Da, wo die Fenier inhaftiert waren, die Kämpfer für die Unabhängigkeit Irlands? Karl Marx schrieb dazu den Artikel Die englische Regierung und die eingekerkerten Fenier für die belgische „L’Internationale“ vom 21. Februar 1870, zu finde in Marx-Engels-Werken, MEW 16, Seite 404.
„Eines der Gefängnisse, worin die verdächtigen Fenier lebendig begraben sind, ist das Mountjoy-Gefängnis in Dublin. Der Inspektor dieses Gefängnisses, Murray, ist eine abscheuliche Kanaille. Er misshandelte die Gefangenen auf einer so barbarische Art, dass mehrere von ihnen den Verstand verloren.“
1942 war auch der IRA-Aktivist und Schriftsteller Brendan Behan im Mountjoy inhaftiert. Im Oktober 1973 gelang drei Gefangenen der IRA eine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis mit Hilfe eines Hubschraubers. Einer von ihnen war Seamus Twomey, der Generalstabschef der IRA. „Up and Away (The Helicopter Song)“ der Folkband Wolfe Tones war dann bald die Nummer eins der Hitparade Irlands. Und jetzt ich …
Aber wenn man es nicht so kennt, dass einem in den After geguckt und darin herumgefingert wird – gewöhnen könnte ich mich nicht daran.
Ronnie Bunting, der protestantische Republikaner, den ich eigentlich besuchen wollte, wurde am 15. Oktober 1980 im Alter von 32 Jahren nachts in seinem Bett von Männern mit Sturmhauben erschossen – wie auch sein Freund Noel Little, mit dem er am folgenden Tag republikanische Gefangene vor dem Hungerstreik in Long Kesh besuchen wollte, bei dem die eiserne Lady Margret Thatcher zehn Männer sterben ließ, als ersten Bobby Sands. Das Viertel war von der britischen Armee abgeriegelt worden. Nur die Attentäter kamen hinein.
Auf Ronnies Beerdigung lernte ich, nachdem ich auf der Fahrt dorthin von Snipern unter Feuer genommen wurde, seinen Vater kennen, Major Bunting, ein Freund des protestantischen Hass-Predigers Ian Paisley.
Major Bunting hatte am 4. Januar 1969 friedliche Bürgerrechtler mit Knüppeln und Steinen an der Burntollet Bridge ins Wasser treiben lassen. Sie hatten nichts als gleiches Wahlrecht gefordert. Damals wurden die Wahlstimmen nach Besitz verteilt, der reichste Protestant in Derry hatte 16 Stimmen, 6.000 Menschen, die als Erwachsene bei ihren Eltern wohnten (fast nur Katholiken) hatte kein Wahlrecht
Major Bunting löst damit die Wiederbewaffnung der IRA aus. Er starb an Gram – wenige Jahre nach Ronnis Tod, seinem einzigen Kind. Auf die symbolische Bestattung von Ronnie im Republican Plot auf dem Milltown Friedhof in Belfast wurden zwei Raketen gefeuert. Ich stand ganz vorne. Beide Sam 7 verfehlten das Ziel.