Protestantische Bauern in Frankreich retten 5.000 Juden vor den Nazis

Geschichtliche Hintergründe von Le Chambon

In dem französischen 1000-Seelen-Dorf Le Chambon-sur-Lignon rettete die überwiegend protestantische Bevölkerung zwischen 1942 und 1945 über 5000 Menschen: Juden, Kommunisten und Leute der Résistance. Zwei Autostunden weiter, in Lyon, sitzt seit Anfang 1983 Klaus Barbie wieder in dem Militärgefängnis, in dem er seine Greueltaten jetzt zu verantworten hat [dieser Text ist aus dem Jahr 1983] . Die Deutschen hatten gegen Ende des Krieges versucht, die abgelegene und dünnbesiedelte Berggegend über die umliegenden Städte unter Kontrolle zu bringen, konnten aber nie Fuß fassen.

Mit meinen drei Kindern gehe ich an den Ufern der Lignon spazieren. Wir schmeißen Steine in den wilden Fluß und fangen Wasserläufer. Meinen 5jährigen faszinieren die hohen Stiefel eines Anglers. ,,Les bottes“, erklärt er, die Stiefel, und fragt fast ohne Akzent: ,,Sind Sie Deutsch? Wo kommen Sie her?“ Ich erzähle ihm von uns. Ob es den Kindern gut gehe, will er wissen, streichelt die beiden Kleinen und läßt sich die Forellen in seinem Korb anfassen. Als ich ihn frage, woher er so gut Deutsch kann, ahne ich die Antwort schon. Er war Kriegsgefangener. „Nein, ich war im Konzentrationslager. In Buchenwald. Ich habe in der Mine gearbeitet“, korrigiert er sich. Es fällt mir schwer, hier im Schatten der allgegenwärtigen Nazivergangenheit zu leben. „Ich habe vieles vergessen. Diese Zeiten sind lange vorbei.“ Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig erkenne, was in seinem Gesicht vor sich geht. Der Mann ist hier großgeworden, wohnt jetzt in St. Etienne, der nächsten Industriestadt Richtung Lyon, mit 15% Arbeitslosen. Nur in seinen Ferien kommt er hierher zurück. Ich würde ihn gerne besuchen, länger mit ihm reden und frage danach. Keine Antwort. Meinen Berichten über die Neo-Nazis, die Borussen-Front und die Friedensbewegung hört er nicht mehr richtig zu. Er sagt „Auf Wiedersehen“ und als er sich umdreht, sehe ich die Tränen in seinen Augen. In den Ferienmonaten Juli und August kommen 15 000 französische Urlauber in den Luftkurort am Rande des Zentralmassivs. Touristische Attraktionen gibt es nicht, bis auf die historische Eisenbahn, die zu den nächsten Ortschaften bummelt.

Es war am 14. August 1942. Gustav war 16. Er stand auf der hinteren Plattform eines Eisenbahnwaggons. Eine halbe Stunde nach der Abfahrt ruckt der Zug und hält. ,,Wir kommen in Monfaucon an“, sagt einer der Mitreisenden. Dazwischen lagen nur wenige kleine Bauernhöfe. Kaum hat der Zug gehalten, füllt sich der Wagen unter lautem Krach mit Einheimischen. In diesem Durcheinander kommt ein Junge von vielleicht 13 Jahren zu Gustav und bemerkt mit stark slawischem Akzent: „Ich glaube, wir fahren zum gleichen Ort… wie heißt Du?“ „Gustav. Gustav Stinnemann…“ „Ich habe Dich schon seit der Abfahrt in Duniers beobachtet. Ich heiße Samuel Levinsky. Ich komme aus Grenoble – und Du?“ Es war Gustavs erstes Gespräch, seitdem er Lyon verlassen hatte. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, mit niemandem zu reden. Obwohl er erst einige Worte mit Samuel gewechselt hatte, preßte der sich an ihn. „Gehst Du auch nach da oben?“ fragte der blasse Junge. Gustav antwortete nur durch eine zustimmende Geste. Aber sein Schweigen entmutigte den jungen Samuel nicht. „Ich glaube, daß es da oben gut sein wird… meine Eltern sind nicht mehr bei mir.“ „Wo sind Deine Eltern?“ „Vor sechs Monaten abgeholt worden in das Lager in den Pyrenäen, nach Gurs… Ich habe nur von ihnen gehört über die Leute von CIMADE… Und Du?“ Gustav wollte nicht antworten. Aber was sollte er mit diesem Jungen tun, der jemanden brauchte, dem er sich anvertrauen kann? „Mein Vater ist 1934 aus Berlin nach Oranienburg gebracht worden, wir haben noch gehört, daß er im September 1938 Typhus hatte, dann nichts mehr… Im Wagen riecht es nach Kohl und Schafskäse. Ferkel sind aus ihren Körbchen entwischt. Le Chambon-sur-Lignon, lesen sie gleichzeitig. Hier oben gibt es keinen Bahnsteig. Sie werden in Empfang genommen von einem jungen Mann, der schon zwei Kinder aus dem ersten Waggon bei sich hat. „Nicht zu müde?“, fragt er.

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So oder so ähnlich sind die Flüchtlinge angekommen. Wortkarge Protestanten, Nachfahren von Hugenotten, bilden die Mehrheit der Bevölkerung dieser Gegend um Le Chambon-sur-Lignon, Le Mazet und dem 1400 m hohen Bergdorf Fay. Dazwischen liegen schwer zugängliche Einzelgehöfte. Diese Dörfer haben über 5000 Menschen während der deutschen Okkupation vor dem sicheren Tod gerettet. Ihnen stehen die 76 000 Ausgelieferten entgegen, darunter 7700 Exil-Deutsche, wie die Abgeordneten Hilferding und Breitscheid (SPD), Franz Dahlem, Heinrich Rau und Siegfried Schädel (KPD), die militante Sozialistin Johanna Kirchner und auch Ernst Busch. Fast alle Deutsche waren in Gurs interniert. 1941 waren dort 9331. Ohne die französische Miliz und die aktive Unterstützung durch die Vichy-Regierung unter Pétain wären die Auslieferungen in diesem Umfang nicht möglich gewesen. Aus einem – Telegramm ans Auswärtige Amt in Berlin im September 1942: „… Französische Regierung hat auf eigene Verantwortung und in eigener Durchführung im Departement Seine 12 884 staatenlose Juden interniert und laufend für den Abtransport zur Verfügung gestellt.“ Die Chambonaiser Rettungsaktion mußte sich gegen Besatzungsmacht und Kollaboranten durchsetzen. Die kirchliche Geschichtsschreibung schildert die Pfarrer André Trocmé und Eduarde Theis als die Motoren der Rettungsaktion und des Widerstandes. Sie waren Pazifisten, Kriegsdienstverweigerer und militante Antifaschisten. Trocmés Frau Magda, Italienerin, hatte ebenfalls die Ideen des Pazifismus beim Studium in den USA von Quäkern aufgegriffen. Die Gattin von Theis, eine Deutsche, starb bald nach dem ersten Weltkrieg. Theis hing an der Idee der Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Wenn die beiden vielleicht auch als die treibenden Kräfte der Rettungsaktion bezeichnet werden können, hat die Bevölkerung dieser Dörfer doch schon vorher bewiesen, daß sie Flüchtlingen als Heimstätte offensteht: Trotz der Anfeindung durch das ganze Departement hatte sie spanische Republikaner aufgenommen und geschützt. Rückendeckung und Ermutigung erhielten die Gemeinden durch den Nationalen Rat der reformierten Kirchen, der 1941 die Vichy-Regierung aufgefordert hatte, dem Druck Deutschlands gegen die Juden entgegenzuwirken. Wie kann man in einer besetzten Gegend, wo insgesamt nur 3000 Menschen wohnen, 5000 retten? Trocmé nahm Kontakt auf mit protestantischen Organisationen, mit dem Roten Kreuz und mit CIMADE, einer Organisation, die gegründet wurde, um Menschen aus Konzentrationslagern zu retten, so auch aus dem Lager Gurs in den Pyrenäen. Das Lager war für spanische Republikaner eingerichtet worden, die noch interniert waren, als die Juden ankamen. CIMADE unterstützt heute nordafrikanische Arbeiter in ihren französischen Ghettos und macht Solidaritätsarbeit für Lateinamerika. Außerdem wurde der Kontakt zu den amerikanischen Quäkern ausgebaut, die mit ihren Geldspenden die ersten Kinderheime unterstützten. So gab es Ende 1941 sieben Häuser für Flüchtlinge, hauptsächlich für Kinder und Jugendliche. Die beiden Pfarrer hatten 1938 ein Internat gegründet, das College Cevenol, das sich als wirkungsvoller Auffangplatz erwies. Mit 18 Schülern angefangen, waren es 1943 über 350, die nicht nur versteckt, sondern auch ausgebildet wurden.

1943.

„Voilà, der Judenzug ist angekommen“, hieß es in Chambon, als um 2 Uhr nachmittags die Dampflok ihren schweren Weg geschafft hatte. In Wirklichkeit kümmerte man sich aber wenig um die Religion der Anreisenden. Neben den Kinderheimen waren es alle 10 Hotels des Ortes, die ohne Fragen und ohne Ausweiskontrolle die Gäste aufnahmen. Eines der Auffangheime für Familien hieß ,,Coteau Fleuri“, dessen Direktor ein Mann mit dem unfranzösischen Namen Hubert Meyer war. Wie für alle anderen Häuser lag ein Evakuierungsplan in der Schublade, denn wir hielten nichts von der offiziellen Version, daß die Juden, die von Deutschland zurückverlangt wurden, in kleine polnische Dörfer gebracht würden, um dort in Ruhe leben zu können“. Meyer wurde von Pfarrer Trocmé gewarnt, daß eine Durchsuchung bevorstehe. „Wir mußten alle Gäste verschwinden lassen. Eine alte Frau wollte aber nicht.“ Als alle auf umliegende Gehöfte gebracht worden waren, wurde auch die letzte Frau auf dem Boden hinter einer Kommode versteckt. Nachts rollten die Wagen an. Zimmer für Zimmer wird durchsucht, der Leutnant fragt nach dem Verbleib der Gäste. ,,Gestern waren noch alle da – aber wir sind hier kein Konzentrationslager!“ Der Leutnant hört die Frau in ihrem Versteck. Sie wird entdeckt, aber Gendarmen holen den Arzt, der sie transportunfähig erklärt. Solange das „Coteau Fleuri“ weiter überwacht wurde, sollten sich die Gäste versteckt halten. Trotzdem begegnet Meyer am nächsten Tag ein alter Mann, der im Wald spazierengeht. „Ich hatte mich verlaufen“, entschuldigt er sich, „dabei bin ich einem Gendarmen begegnet, der mir den Weg gezeigt hat. Außerdem hat er gesagt, ich würde zuviel spazierengehen.“ Alle Gäste des Hauses konnten später in die Schweiz gebracht werden. Nie mehr als 2 bis 3 in einem Auto – bis auf eine junge Frau, die sich bei einem Presbyter verabschieden wollte und an seinem Hause festgenommen wurde. Man hat nichts mehr von ihr gehört. Pastor Trocmé erhielt die Warnungen von einem Teil der Gendarme; andere unterhielten sich in den Wirtschaften so laut, daß die Bevölkerung über bevorstehende Aktionen gewarnt wurde; außerdem kamen Informationen von den Telefonzentralen.

1942 standen bereits an die 20 Häuser für Kinder, die alle mit falschen Papieren versehen wurden. Alle wollten ernährt sein. Jeden Donnerstag fuhr ein geliehener Laster mit einem Packen gefälschter Lebensmittelmarken auf den Markt in Yssingeaux. Mit dem gleichen Wagen wurde auch Holz zum Heizen geholt, mit echten Papieren der Bürgermeisterei. Als der vollgeladene Wagen von Forstverantwortlichen gestellt wurde, war allen klar, daß die Bürgermeister-Papiere nichts wert waren, weil für den Forst die Präfektur verantwortlich war. Es waren diesmal die Gendarmen der Präfektur, die für höhere Gerechtigkeit sorgten: sie ließen den Laster fahren, auf dem auch noch zwei Tonnen illegaler Kartoffeln versteckt waren. Während die Neuankömmlinge in Heimen wie ,,Tante Soly“ im Büro aufgenommen wurden, durchsuchte ein Helfer im Nebenraum den Koffer. Ein Kind hatte keine Judenarmbinde mit. Es stellte sich heraus, daß der Vater Offizier war. Eines der wenigen (20%) nicht-jüdischen Kinder. Ins gleiche Heim brachte später auch der Kommissar für Judenfragen in St. Etienne sein Kind, offensichtlich im Wissen um die Umstände in diesem Ort. Obwohl die Zeitzeugen übereinstimmend berichten, daß kein Bauer und keine Bäuerin der ganzen Gegend sich geweigert habe, einen Juden zu verstecken, war es unter den Risiken der Besatzung keine Selbstverständlichkeit. Oscar Rosowsky z. B. war mit seiner Mutter schon zwei Jahre bei einem Bauern untergekommen. Ohne einen Pfennig Geld zu haben, selbstverständlich. Die Wirtsleute hatten ständig Angst vor Repressalien, zwei Jahre, jeden Tag, jede Nacht. Schließlich besprachen sie sich mit anderen Bauern, kamen aber auf keine Idee, wie sie ihr Problem lösen konnten. „Aber, wenn Sie so wollen,“ entschieden sie sich dann, „wenn man die ganzen Leute hier so langkommen sieht, ohne daß sie wissen, wohin sie gehen sollen, dann nahm man sie schon aus Mitleid auf.“ Ein sehr tätiges Mit-Leiden allerdings, unter Einschluß der Gefahr, nicht barmherziges Abspeisen mit einer Spende. Ziviler Ungehorsam hörte nicht an den Grenzen der Gesetze auf. Bauern meldeten ihre Gäste gar nicht, Hotels und Heime gaben immer falsche Namen an. Auch die Schulen drückten ihren Ungehorsam gegen die mit den Nazis zusammenarbeitende Vichy-Regierung durch Meldeboykott aus. Im Februar 1942 wurden die beiden Pfarrer abgeholt und ins KZ Saint-Paul-d’Eyjeaux gebracht, wo sie mit Partisanen von General de Gaulle, der von seinem Exil in London aus über BBC Ansprachen hielt und mit den Militanten der Linken, den Maquisarden, zusammenlebten. „Wir konnten dort jeden Sonntag einen Gottesdienst und öfters Bibelstunden abhalten“, ist Pfarrer Theis wichtig festzuhalten. Maquisarden berichten, daß es dabei hauptsächlich um den Zusammenhang zwischen Marxismus und der Bibel gegangen sei. Auch ohne daß sie Papiere unterzeichnet hätten, mit denen sie die „nationale Revo,lution“, also die Vichy-Regierung anerkannt hätten, wurden beide Pfarrer nach vier Wochen entlassen. Die Mehrheit der Internierten wurde kurz darauf nach Deutschland ausgeliefert. Im Juni 1943 kam es zum einzigen großen Schlag gegen das Dorf. Die 40 Bewohner des „Maison des Roches“ wurden von der GESTAPO abgeholt; der Leiter, ein Cousin des Pfarrers Trocmé in Majdanek umgebracht. Beide Pastoren gingen daraufhin in den Untergrund: Trocmé blieb in der Nähe, Theis half von der Schweiz aus bei Flüchtlingstransporten.

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Oscar Rosowsky, dessen Wirtsleute die Angst überwunden hatten, war 1941 nach Chambon gekommen, um eine Schreibmaschinen-Reparatur-Lehre zu machen; als Jude durfte er an der Universität Marseille nicht studieren. Als er seinen Vater in einem Lager besuchen wollte, wurde er selbst verhaftet, konnte nach einem Monat entkommen und seine Lehre fortsetzen. Die Haftzeit wurde als Urlaub angerechnet. Der Vater wurde deportiert und 1942 in Auschwitz umgebracht. Mit seiner Mutter wollte er in die Schweiz. Sie wurde von Gendarmen festgenommen, und er von Schweizer Polizei, wenn auch diskret, wieder abgeschoben. Also reparierte er wieder Schreibmaschinen, wozu auch die der Präfektur gehörten. Dort konnte er die ersten Stempel und offiziellen Papiere mitgehen lassen und begann damit und einer genauen und effektiven Fälschungsmethode die Herstellung falscher und verfälschter Papiere für die Flüchtlinge. Bald darauf nahm der in Chambon für die Résistance zuständige Léon Eyraud mit dem 19jährigen Oscar Kontakt auf, besorgte für ihn einen ruhigen Platz auf einem Bauernhof, zwei Helfer und Material. Oscar war zum freigestellten Résistance-Drucker avanciert. „Wir stellten nicht nur Ausweise her, sondern Lebensmittelkarten, Armee-Entlassungspapiere, Entlassungspapiere für den Zwangsarbeitsdienst in Deutschland, Schulzeugnissse, Heiratsurkunden, Familienbücher, Wohnungsänderungsnachweise, Arbeitspapiere, Gehaltsnachweise und nicht zuletzt Tabakkarten. Alles versehen mit Stempeln des Bürgermeisters, der Polizei oder Präfektur. Und natürlich den Gebührenmarken.“ Zwischen Dezember 1942 und März 1944 wurden für 5000 Leute falsche Papiere ausgestellt. Die Nachbarn nahmen bald wahr, daß auf dem Hof Tag und Nacht gearbeitet wurde. Trotzdem flog die Druckerei nicht auf, die eines der Bindeglieder zwischen zivilem Widerstand, illegaler Aktion und militärischer Résistance war.

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Die Maquisarden, die militärischen Einheiten der Résistance, kamen in der Nähe von Chambon nie zum Einsatz. Im Gegenteil: für den Kommandanten Eyraud war es eine schwierige Aufgabe, die zum Kampf drängenden jungen Leute davon abzuhalten. Für einige Zeit hatte die Wehrmacht ein Soldatenerholungsheim mitten im Ort eingerichtet. Es wäre ein leichtes gewesen, die in der Lignon badenden Soldaten anzugreifen. Eyraud hielt es für zu leichtsinnig, dadurch die Rettungsaktion zu gefährden. Statt dessen wurde in der „Kaserne“, einem Bauernhof, im Kampf mit leichten Waffen ausgebildet. Es kamen junge Frauen und Männer, die die Zwangsarbeit in Deutschland verweigerten, Kommunisten und Juden. Man erzählt sich von einem Jugendlichen, der bleiben wollte, weil er nicht auf seinen Fußballverein verzichten wollte. Eine andere Episode: Von den Schülern des College Cevenol setzten sich viele in den Maquise ab. Ihre Lehrer, Pazifisten, konnten nur zusehen, bis der Kommandant ihnen anbot, mitzukommen, den Unterricht fortzuführen und ein waches Auge auf ihre Schützlinge zu halten – der pazifistische Teil der Befreiungstruppen. Spezialeinheiten übernahmen den Empfang von Fallschirmsendungen der Alliierten. Diese wurden über Funk angekündigt und die Flugzeuge, mit Waffen, Nahrungsmitteln, aber auch Uniformen der Miliz und der Wehrmacht, mit Lichtsignalen zum Abwurfort dirigiert. 21 Ladungen kamen vom Himmel, einschließlich zweier Amerikaner, die bei der Ausbildung halfen. 1943 stand die Infrastruktur: Einheiten zu 30 Mann (und Frau), unterteilt in Sechser-Gruppen, die sich gut kannten, waren gebildet. Auch der Sozialdienst war eingerichtet: eine Schwester, ein jüdischer Arzt und drei Feldprediger für Katholiken, Protestanten und Juden. In den umliegenden Gebieten sah es etwas anders aus. Bevor es zu direkten Angriffen auf die Besatzungstruppen kam, wurden Banken überfallen (mit Quittung, nach dem Krieg einzulösen), und Sabotageaktionen durchgeführt. Nördlich war die Eisenbahnstrecke zwische Lyon, St. Etienne und weiter nach Le Puy immer wieder unterbrochen, südlich sprengten die Maquisarden die Brücken über die Rhone, der Hauptverbindung zum Süden. Beim Rückzug in die Ardèche nahmen die Deutschen nur selten die Verfolgung auf. Sie waren zwischen Schluchten und steilen Felsen hoffnungslos unterlegen. In Le Chambon selbst wurde 1943 ein vichytreuer Polizist eingesetzt. Zu seinen ersten Aufgaben gehörte es, die Meldelisten zu überprüfen. „Und wenn ich einen Juden bei mir hätte, Ihnen würde ich es nicht sagen,“ bekam er vom Bauern Héretier zu hören. Der Schulleiter schrieb ,,Nichts“ auf den Fragebogen, Hotels meldeten ihre Gäste weiter unter falschen Namen. Eines Nachts wurden die Scheiben seines Büros eingeworfen. Der Einschüchterungsversuch half nichts, er wollte nicht freiwillig von der Bühne treten. Die Versuche der Judenidentifizierung gingen weiter. Auf einer der nächsten Lebensmittelkarten des Leiters des Heimes ,,Tante SOLY“ stand groß JUDE. Bald darauf fand man den Vichy-Agenten erstochen und „bepißt von Blut“ in der Nähe seines Büros. Auf dem Weg ins Krankenhaus starb er. Es blieb dies die einzige militärische Aktion in Chambon bis zum Ende des Krieges. Aber er war nicht der letzte Tote des Dorfes. Im Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie, im September wurde Le Chambon befreit. Vorher kam es zu zwei tragischen Ereignissen. Mitte August erhängte sich der 16jährige Sohn des Pfarrers Trocmé, Jean-Pierre. Der, der ihm am nächsten stand. Am Vorabend hatte er mit seinen Eltern die Ballade von François Villon über den Erhängten gehört. Wenige Tage später wird der Arzt Le Forestier von den Nazis umgebracht. Er war nach Le Puy gefahren, um zu versuchen, zwei Maquisarden aus dem Gefängnis zu bekommen. Während er im Gefängnis ist, wird eine Bank überfallen, sein Wagen durchsucht und eine Pistole gefunden. Er hatte zwei Maquisarden mitgenommen, die sie dort ohne Wissen des absolut gewaltfreien Arztes versteckt hatten. Le Forestier soll vom Militärgericht unter Oberst Metzger zum Tode verurteilt werden. Ein • Major namens Schmähling macht einen besseren Vorschlag: Ärzte werden gebraucht, er soll deswegen nach Deutschland überstellt werden. Le Forestier ist ein jähzorniger Mensch. Er kann seine Beschimpfungen auf die Deutschen nicht bremsen. Auf dem Transport wird er Ende August in der Nähe von Lyon umgebracht.

Einer der Nachbarn von Oscar Rosowskys illégaler Druckerei war ein lungenkranker Mann, der während der Zeit der Okkupation hier seine Krankheit ausheilen wollte – Albert Camus. „… sie fragen mich, aus welchen Gründen ich mich auf die Seite der Résistance gestellt habe. Diese Frage hat für eine Reihe von Menschen, zu denen ich gehöre, keinen Sinn. Es schien mir und es scheint mir noch immer, daß man nicht auf der Seite der Konzentrationslager stehen kann. Ich begriff also, daß ich weniger die Gewalt, als die Institution der Gewalt verachtete. Und um ganz exakt zu sein, ich erinnere mich sehr genau an den Tag, wo die in mir lebende Welle der Revolte ihren Gipfelpunkt erreichte. Es war eines morgens in Lyon und ich las in der Zeitung von der Hinrichtung (des kommunistischen Widerstandskämpfers, Verf.) Gabriel Péris.“ Camus begann in Le Chambon sein Buch „Die Pest“. Und wie in einem Großteil seiner Werke findet man Anlehnungen an Menschen und Ereignisse seiner Umgebung wieder. Angefangen bei Namensähnlichkeiten wie Dr. Rieux in der „Pest“ und Dr. Riou in Le Chambon oder dem Garagisten Grand in der Nähe des Dorfes und dem Bürokraten Grand im Roman. Dann die Szenerie: Die befestigte Stadt Oran sowie das durch Berge und Wälder abgeschirmte Dorf. Einmal ist es der engagierte Christ, Trocmé, der die Gefahr des Faschismus heraufziehen sieht, öffentlich dagegen Stellung bezieht und seine Gemeinde vorwärtstreibt. Dr. Rieux in der „Pest“, überzeugter Atheist, nennt die Pest beim Namen, arbeitet sich in die Grundlagen der Bekämpfung ein, handelt sicher und überlegen. Beide haben ein exaktes Verständnis für die grauenhaften Ursachen des Todes und setzen sich hartnäckig für die Rettung menschlichen Lebens ein. Der beste Freund des Dr. Rieux im Roman stirbt kurze Zeit, bevor die Geißel der Pest die Stadt verläßt. Auch seine Frau, außerhalb der Stadt, ist tot. Nur wenige Tage vor der Befreiung erhängt sich Trocmés Sohn. Der Tod in seiner absurdesten Form tritt in das Leben aufrechter Menschen, die auf der einen Seite erfolgreich gegen ihn ankämpfen, ihm aber in ihrem privaten Bereich ausgeliefert sind. „Aber was heißt das schon, die Pest? Es ist das Leben, sonst nichts.“

Jeden Tag kamen mit der Eisenbahn neue Flüchtlinge, die in die Schweiz oder nach Spanien weitergebracht werden mußten. Welche Erklärung gibt es, daß gegen Le Chambon keine Strafaktion durchgeführt wurde wie gegen Oradur, wo 1944 das ganze Dorf von der SS ausgerottet wurde, 624 Menschen? Die Geschlossenheit der Bevölkerung, auch der Katholiken und Nichtchristen aus den umliegenden Ortschaften? Daß der Kommissar für Judenfragen und auch andere Leute ihre Kinder hierhergebracht haben? Die Abgelegenheit des Ortes von der 45 km entfernt liegenden Garnisonsstadt Le Puy, wo 200 deutsche Soldaten und 600 in Rußland rekrutierte Tartaren stationiert waren? Wie kann man erklären, daß selbst auf die – wenigen – Denunziationen und die Aussagen bei Verhören keine Reaktion erfolgte? Eine junge Frau z. B. wurde während ihrer Festnahme beim Verhör in Le Puy gebrochen und gab Eyraud als Leiter der Résistance an. Dieser erfuhr davon, hielt sich drei Wochen im Wald auf, ohne daß er zu Hause gesucht wurde, um dann wieder seiner Geschäfte nachzugehen. Gegen Ende des Krieges machten die Maquisarden 25 Gefangene, die auf dem „château de Mars“ untergebracht wurden. Deren medizinische Betreuung übernahm der Arzt der Résistance, Nicolas Schapira. Ein in Rumänien geborener, in Österreich aufgewachsener Jude, Verehrer deutscher Kultur, der Lessing, Schiller und Goethe in seiner Jugend verschlungen hatte. Beim Heranwachsen des Faschismus ging er nach Frankreich, meldete sich später, etwa 35jährig bei der Résistance. Zunächst arbeitete er im Umkreis von Le Chambon, ging aber bald in kampferprobtere Gebiete der Ardèche. Schapira führt heute mit 76 Jahren in Firminy bei St. Etienne eine große Praxis. Nach dem Krieg verdrängte er die deutsche Sprache („Es hat in der Geschichte kein Volk gegeben, das ein solches Unrecht begangen hat.“), wollte sie verdrängen, spricht aber noch exakt und pointiert. „Unter den 25 war auch Major Schmähling. Er war sicher kein Nazi. Er hatte schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht und war nicht freiwillig in Le Puy. Er war eingezogen worden. Als wir Schmähling und seine Leute festgenommen haben – er wollte versuchen, zu den deutschen Truppen durchzukommen – erzählte er mir, wie er die französische Miliz verachtete. Die Judas der Franzosen. Schmähling hat alle Denunziationen vernichtet. Sein Vorgesetzter Oberst Metzger, ein Nazi, hat nur das in die Hände bekommen, was Schmähling durchlassen wollte. Nur Dr. Forestier, für den hat er sich ja einsetzen wollen. Mir selbst sind Leute aus dem Trupp bekannt, die mit Le Forestier nach Lyon gebracht werden sollten. Einige Maquisarden haben die Tartaren bestochen und sind freigekommen.“ Dr. Schapira berichtet weiter, wie Major Schmähling, ein glaubensfester Katholik, immer wieder versuchte, seinen Vorgesetzten auf andere Ziele als Le Chambon hin zu orientieren. „Schmähling wußte sehr genau, was in Le Chambon vor sich geht. Er war der einzige Deutsche damals, der kein Nazi war. Die jungen Wehrmachtsoldaten? Alles Nazis. Alle kamen sie aus der HJ. Sie haben Alte geschunden und Säuglinge an die Wand geworfen. Ich war nach der Strafaktion in Cheylard, wo sie 70 Einwohner umgebracht haben. Das war nicht die SS, das war die Wehrmacht.“ Pastor Trocmé traf nach dem Krieg in München mit Schmähling zusammen. Auf die Frage, warum Le Chambon so schonend behandelt wurde, soll er geantwortet haben: „Der gewaltfreie Widerstand der Christen konnte nicht durch Gewalt beantwortet werden.“ Und so, schließt die kirchliche Geschichtsschreibung in einer kleinen Broschüre, wurde durch die Gewaltfreiheit das Leben Tausender Unschuldiger gerettet. Obwohl die Ereignisse in geschichtlichen Dimensionen gesehen nicht lange her sind, gibt es doch sehr unterschiedliche Interpretationen oder Wahrnehmungen der Realitäten. Was sich im aufgezeichneten, nämlich kirchlichen Teil der Geschichtsschreibung als gewaltfreier, wenn auch sehr radikaler Widerstand darstellt, geht in der mündlichen Überlieferung der Maquisarden weit darüber hinaus. Roger Ruel war Volksschuldirektor in Le Mazet, dem nächstgelegenen Dorf und dort Leiter der Résistance. „Wenn jemand verständnisvoll war, dann Schmähling. Sicher ist, daß er kein Nazi war. Man sagt, ich betone das, er habe Chambon geschützt. Sicher ist, daß er von den Maquisarden gewußt hat. Als ich die Gelegenheit hatte, auf,château de Mars mit ihm zu reden, kannte er die Existenz der Maquis auf,château de Veau‘ und ,Belle San Morelle‘. Und trotzdem gab es weder Repressalien noch Angriffe. Und – es hat mir Vergnügen bereitet, das zu hören – wir hätten einen guten Maquise gehabt.“ Schmähling hat offenbar nicht nur den gewaltfreien Widerstand geduldet. Seine schützende Hand findet eine historische Entsprechung in Dänemark. Dort hatte der Reichsbevollmächtigte Werner Best eine warnende Ankündigung über die bevorstehende Judenverfolgung gegenüber dänischen Politikern gebilligt. 7500 Juden wurden durch die Evakuierung ins unbesetzte Schweden gerettet.

Ohne Zweifel waren die religiösen Motive die treibenden Kräfte in der Bevölkerung. „Da wird der König sagen zu denen zu seiner Rechten: kommet her, ihr gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! … Denn ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt… Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist … Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Das ist vor dem Weltgericht“, Matthäus 25. Dreißig Prozent der Bevölkerung sind Darbysten, religiöse Fundamentalisten in der festen Überzeugung, daß sie die einzigen sein werden, die ins Paradies kommen. Stark im Glauben, aber auch im Handeln. Über Le Chambon gibt es keine eigentliche Geschichtsschreibung. Die Einwohner heute – nach nur 40 Jahren gibt es nur noch wenige Zeitzeugen – bewerten die Ereignisse von damals als selbstverständliche Aktionen der Nächstenliebe. Als die geretteten Juden der Bevölkerung 1979 eine Gedenktafel errichteten, bedankte sich das Presbyterium in einer Stellungnahme: „…Die Menschen, die zu dieser Zeit gelebt und an den geheimen Aktionen teilgenommen haben, wissen gut, daß sie nicht besonders heroisch und nicht besonders großmütig waren. Sie haben nur getan, was getan werden mußte.“ Erst im Nachhinein traten – scheinbar kaum überwindbare – Schwierigkeiten auf. Anfang 1983 verlieh das „Hebräische Union College in New York der Bevölkerung einen 10000-Dollar-Preis. Wer sollte da hinfahren? Gar mit dem Flugzeug? Es fand sich keiner. Daraufhin kam der Direktor der jüdischen Universität, um jemanden zu suchen. Schließlich war die feierliche Übergabe im großen New Yorker Emanuel-Tempel bereits geplant, wo während der gleichen Zeremonie 21 Rabbiner ins Amt eingeführt werden sollten. Da war es auch nötig, eine Dankesrede zu halten. Schließlich wurde ein Lehrer des College Cevenol delegiert, Bernard Galland, Präsident des örtlichen Vereins zur Geschichtspflege. 10000 Dollar, das ist der Grundstein für ein Museum über die zivile und militärische Résistance. Die Gemeindeväter stellten dafür das ausgediente Schlachthaus zur Verfügung.

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