
Thomas Weber im SPIEGEL auf die Fragen von Nils Minkmar über das Buch Ich traf Hitler: „Als ob man auf einmal vor einer unverhofft gefundenen Goldkiste stünde.“ https://www.spiegel.de/geschichte/adolf-hitler-wir-wissen-wenig-ueber-ihn-a-00000000-0002-0001-0000-000169988573#
Diese Interviews fanden statt, als Hitler schon 50 Jahre tot war. Aber alle 45 Zeitzeugen erinnern sich genau an die Begegnungen: Wie er das erste Zimmer in München mietete, wie er in die feine Gesellschaft eingeführt wurde, wie es beim Hitler-Putsch lief. Die Köchinnen, Kammerdiener und Hausmeister, die Gauleiter, Generäle und Sturmbannführer, die Schauspielerinnen, Hausfrauen und Architekten – sie hatten „nicht die geringste Ahnung“ von den Verbrechen des Nationalsozialismus. Viele der Gesprächspartner haben zum ersten Mal erzählt.
EDITORIAL des Herausgebers Wieland Giebel
„DAVON HATTE ICH NICHT DIE GERINGSTE AHNUNG“
In diesem Buch finden sich Dokumente. Zu Wort kommen Menschen, die Hitler gekannt oder zumindest einmal oder mehrmals getroffen haben. Es handelt sich bei ihren Berichten und Schilderungen nicht um eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Viele der Gesprächspartner haben fünfzig Jahre nach Ende der NS-Herrschaft zum ersten Mal von ihren Erfahrungen erzählt. Sie trafen Hitler in seinem ersten Zimmer in München, sahen ihn während des Putschversuchs, zum Zeitpunkt der „Machtergreifung“, auf dem Berghof, in der Wolfsschanze, im Führerbunker. Der Abstand zum Erlebten war in den 1990er-Jahren groß genug. Nun wollten sie berichten – und sie hatten Vertrauen zu ihrem Gesprächspartner Karl Höffkes. Es ist sein Verdienst, überlebende Akteure des Nationalsozialismus beharrlich befragt und ihre Aussagen dokumentiert zu haben.
LEUGNER UND VERHARMLOSER
Unbelehrbarkeit und Verharmlosung sowie reinwaschende Unschuldsbeteuerungen ziehen sich durch die in diesem Buch zusammengetragenen Gespräche. Eine Relativierung der Verbrechen wird zum durchgehenden Muster.
„Man wusste ja gar nichts davon. Man wusste zwar, dass die Juden nach Osten deportiert wurden. Ich dachte, die würden umgesiedelt.“ – Reinhard Spitzy, NSDAP, SA, Reichssicherheitshauptamt, im Interview 1996
„Ich war in meinem ganzen Leben Humanist … Ich war dann tatsächlich verwundert, als ich nach dem Kriege von den KZ erfahren habe.“ – Dr. Tobias Portschy, SS, Träger des „Blutordens“, Stellvertretender Gauleiter der Steiermark, 1995
„Was sich in den Konzentrationslagern abgespielt hat, davon hatte ich nicht die geringste Ahnung.“ – Willi Schneider, SS-Begleitkommando Adolf Hitler, 1990
„Dass behauptet wird, es seien Zivilisten wahllos erschossen worden, trifft uns ganz tief in unserem Ehrgefühl. Ich wie viele andere Kameraden haben unmöglich etwas getan, was gegen die Ehre eines anständigen deutschen Soldaten ging.“ – Hans Gotthard Pestke, Kommandeur des I. Bataillons des
Infanterie-Regiments 176, später Brigadekommandeur der Bundeswehr, ausgezeichnet mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1998
„Wir schossen auf eine Entfernung von dreißig Metern ein paar Russen ab … Wir schossen sie natürlich ab wie die Hasen, als die den Hang herunterfuhren … Einmal überholte uns ein T-34 mit Infanterie drauf. Die guckten plötzlich entsetzt. Ich sehe die Augen, das Gesicht noch, guckten entsetzt in unsere Mündung. In dem Moment war natürlich Feierabend. Da war es für die armen Kerle passiert. Teilweise überfuhren wir von hinten russische Infanteristen, die runtergesprungen waren. Es war ein Höllensabbat, wie Sie es sich nicht vorstellen können.“ Feindliche Soldaten mit dem Panzer zu überrollen ist kein Kriegsverbrechen. Das weiß Rudolf von Ribbentrop, Eisernes Kreuz, SS-Division „Hitlerjugend“, später Mitinhaber der Henkell & Co Sektkellerei sowie Sprecher der Geschäftsleitung des Bankhauses Lampe. „Hitler wollte sicher keinen Krieg, was sollte ihm ein Krieg bringen?“ – Ribbentrop 1997
„In Wien liegt die Wurzel seines Antisemitismus. Ich selber habe, und darauf können Sie sich verlassen, und ich war Hitlers Adjutant, den Namen ,Auschwitz‘ zum ersten Mal am 8. Mai 1945 gehört. Vorher wusste ich nichts von diesem gigantischen Verbrechen in den Konzentrationslagern.“ – Fritz Darges, SS-Obersturmbannführer und Adjutant im Stab Adolf Hitlers, 1996
„Was wusste man denn über den Massenmord? Damals nichts.“ – Johann Adolf Graf von Kielmannsegg, Mitglied des Oberkommandos der Wehrmacht, im Jahr 2001 gegenüber der „Jungen Freiheit“. Kielmannsegg nahm an den Feldzügen gegen Polen, Frankreich und Russland teil. 1950 wurde er ins Amt Blank berufen wurde, um den Aufbau der Bundeswehr vorzubereiten; 1955 war er Brigadegeneral und 1967 NATO-Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa Mitte.
Karl Höffkes hat sie alle zum Sprechen bewegt.
NAIVE, PROFITEURE, BESSERWISSER
Die Verehrung des „Führers“, des angeblich zu seinem Hofstaat allzeit freundlichen Menschen, hielt sich bei vielen derjenigen, die in diesem Buch zu Wort kommen, über mehr als fünfzig Jahre.
„Er hat sicher den besten Willen und die besten Pläne gehabt, das glaube ich gerne. Und alle haben ja daran geglaubt.“ – Gretel Roelofs, 1993
„Hitler war besonders ritterlich, und zwar innerlich ritterlich.“ – Tilla Maria von Below, 1998
Einige profitierten von ihrer Verbundenheit mit dem NS-Staat und ihrer Bekanntschaft mit Hitler. So der Architekt Hermann Giesler, der 1983 erklärt: „Ich war fasziniert, mit welcher Sicherheit und inneren Überzeugung er dabei seine visionäre Sicht der Zukunft Europas vortrug. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich Hitler das Modell zum ersten Mal zeigen konnte. Die Scheinwerfer simulierten die Sonneneinstrahlung am Nachmittag und eröffneten Hitler eine Blickrichtung auf Linz, wie sie sich von seinem geplanten Altersruhesitz dargeboten hätte. Für ihn waren diese nächtlichen Stunden seltene Gelegenheiten, um den täglich wachsenden Belastungen zu entfliehen und etwas Entspannung zu gewinnen.“ Das war unter der Neuen Reichskanzlei im Februar 1945, als der Krieg lange verloren war.
Das Foto von Giesler mit Hitler vor dem Modell von Linz nahm Walter Frentz auf, Kameramann bei den Olympischen Spielen, Kriegsberichterstatter
der Wochenschau. Frentz sagt im Gespräch mit Karl Höffkes 1995: „Er war einer der wenigen Politiker, die auch Gefühl besaßen und nicht nur mit Verstand arbeiteten. Er konnte sich daher in gewisse Situationen besser einfühlen als mancher Politiker, der das nur mit dem Verstand tat. Ich habe Hitler durchaus menschlich in Erinnerung …“
Einige Gesprächspartner meinen zu wissen, was Hitler falsch gemacht hat und wie der Krieg hätte gewonnen werden können. Theodor Oberländer, NS-Agrarwissenschaftler, schildert 1996, dass er und Wilhelm Canaris, Chef der Abwehr, der Meinung waren, man würde besser und erfolgreicher gegen die Rote Armee kämpfen, wenn man die von den Russen unterdrückten Völker auf seine Seite zöge, aber: „Hitler wollte alles alleine machen.“ Hitler wollte auch nicht auf den Rat von Ernst Hanfstaengl hören, mit ihm vor der „Machtergreifung“ quer durch die USA zu fahren, seinen kleinen Finger einmal in den Pazifischen Ozean zu stecken, um zu begreifen, wie groß und damit mächtig die Vereinigten Staaten von Amerika sind.
Karl Höffkes spricht mit den letzten überlebenden Alt-Nazis, mit Profiteuren, Karrieristen, Besserwissern, Naiven und mit sehr wenigen Geläuterten. Niemals aber ist in diesen Interviews zu hören: „Wir haben Verbrechen begangen. Es war falsch. Ich habe mich geirrt und stand auf der falschen Seite. Ich habe im weiteren Leben versucht, meine Fehler gutzumachen.“
DER ANHALTENDE EINFLUSS NATIONALSOZIALISTISCHER GESINNUNG
Für den Berlin Story Verlag stellt dieses Buch den Gegenpol zu dem Band „Warum ich Nazi wurde“ dar. Darin schildern mehrere hundert Alte Kämpfer, also frühe Mitglieder der NSDAP, im Sommer 1934 in ausführlichen Lebensberichten, warum sie zur Hitler-Bewegung gekommen sind. „Ich traf Hitler“ macht vor allem eins deutlich, nämlich wie die Ideologie des Nationalsozialismus noch nach fünfzig Jahren wirkt.
„Warum ich Nazi wurde“ veranschaulicht, wie sich Menschen mit niedriger, mit niedrigster Gesinnung dafür entscheiden, Nazis zu sein – Rassisten, Antisemiten, gewalttätige Kleingeister, die sich bereichern auf Kosten anderer, der Nachbarn oder der Nachbarvölker. Sie zeigen Minderwertigkeitskomplexe und Überlegenheitsgefühl gleichzeitig. Die zentrale Erkenntnis von „Ich traf Hitler“ ist, dass Menschen – abgesehen von wenigen Aussagen – auch nach der Niederlage 1945 und selbst wenn sie persönlich für den Tod von Hunderten, von Tausenden, ja von Zehntausenden verantwortlich sind, kein einziges Wort des Bedauerns über die Lippen bringen und im Grunde nicht von ihrer nationalsozialistischen Gesinnung abweichen.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als diese Nazis sich in den 1950er-Jahren in Seilschaften organisierten, als sie die Bundeswehr, Ministerien und Behörden aufbauten – und meine Lehrer waren. Angeblich waren sie nicht schuldig, denn sie hatten ja nichts gewusst. Meine Mutter, die Anfang der 1940er-Jahre in Weimar zur Höheren Handessschule ging, berichtete, dass die Kinder sich auf dem Schulhof, wenn es in der Stadt süßlich roch, darüber unterhielten, dass oben auf dem Ettersberg, im KZ Buchenwald, wieder Menschen verbrannt wurden. Jeder wusste das. Im Jahr 1943 wurden in Buchenwald mehr als 3.500 Tote registriert, etwa zehn pro Tag.
Die Verstrickung der allermeisten Deutschen in die Nazi-Geschichte ist in unserer Gesellschaft nicht richtig verarbeitet, anders als die vielen Fernsehfilme und wissenschaftlichen Veröffentlichungen vermuten lassen. „Aber mein Großvater wusste von nichts“, ist weiterhin und bis heute eine geläufige Aussage. Der Journalist David Ensikat, der seit mehr als zwanzig Jahren im „Tagesspiegel“ die Nachrufe betreut, eine außergewöhnliche, wöchentliche Seite, schreibt*: „Es gab, soweit ich mich erinnern kann, bislang nicht einen Nachruf, in dem die Beteiligung eines Verstorbenen an NS-Verbrechen eine Rolle spielte. Verwundungen an der Front, Gefangenschaft, Traumata, das alles oft: nichts aber haben wir erfahren über Erschießungen, Transporte, Wachdienste. Das große Schweigen dauert an. Die Geschichte jüdischer Überlebender dagegen haben wir oft erzählen können.“
GEGNER UND VERSCHWÖRER
Es gibt Ausnahmen in diesem Buch. Daisy Schlitter hat als junges Mädchen, achtzehn Jahre alt, Anfang der 1930er-Jahre die Berliner Künstlerszene kennengelernt. Anfang 1932 wollte sie Hitler bei einem öffentlichen Auftritt hören. Ihrer Mutter berichtete sie: „Heute habe ich den Mann gesehen, der Deutschland zugrunde richten wird. Er heißt Adolf Hitler. Seine Partei kommt an die Macht, der Mann wird die Regierung übernehmen. Er strahlt eine überzeugende Kraft aus, ist revolutionär und fanatisch. Die Russen werden aus Sowjetrussland kommen, es wird Krieg geben. Der Mann wird Krieg machen gegen Russland. Die Russen werden in Berlin stehen.“
Das Ende schildert Egon Hanfstaengl, dessen Vater Hitler in die Münchner Gesellschaft eingeführt hatte: „Zum Schluss war er ja kaum mehr in Fühlung mit der Wirklichkeit, hat im Bunker losgelöst von aller Wirklichkeit, in einem Zustand des Wahns gelebt, bis er zugeben musste, dass alles verloren war. Da hat er es dann noch fertiggebracht, die Schuld dem deutschen Volk, das seiner nicht würdig gewesen sei, zuzuschieben. Also eine haarsträubende Einstellung.“
Philipp Freiherr von Boeselager, Ordonnanzoffizier von Generalfeldmarschall Günther von Kluge an der Ostfront, später einer der Mitverschwörer des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944: „Man wusste aber ganz genau, Hitler und diese SS-Leute konnte man nicht abwählen, es gab keine demokratische Möglichkeit. Es war klar, die konnte man nur umbringen.“ – 1997
Hätte Hitler umgebracht werden können? Waldemar von Gazen, Major im Generalstab der Wehrmacht, wird im Januar 1943 von Hitler ausgezeichnet: „Als ich dann vor Hitler stand, hatte ich noch mein Koppel umgeschnallt, eine Pistole mit Magazin, aber nicht durchgeladen. In dem Moment dachte ich noch, was würde passieren, wenn plötzlich jemand auf Hitler schießen würde. Das kann man doch eigentlich gar nicht zulassen. Daran sieht man aber, dass durchaus die Möglichkeit bestanden hat, auf ganz andere Weise ein Attentat auf Hitler durchzuführen, als das später Stauffenberg gemacht hat.“
Egon Hanfstaengl vertritt die Meinung, der 20. Juli 1944 sei nicht nur deshalb gescheitert, weil Hitler überlebte, sondern vor allem, weil wichtige Schlüsselfiguren nur mitgemacht hätten, wenn Hitlers Tod absolut sicher gewesen wäre. Da er aber nach dem Attentat weiter in vollem Maße handlungsfähig war, scheiterte das Unternehmen: Weil so viele einfach von der Autorität dieses Mannes so tief beeindruckt waren, dass sie sich eine
Rebellion gegen den lebenden Hitler überhaupt nicht vorstellen konnten. Sie hatten Angst.
WARUM DIESES BUCH?
2016 hat der Berlin Story Verlag das Buch von Harald Sandner: „Hitler – Das Itinerar, Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945“ veröffentlicht. Wir gingen damals davon aus, dass die vier Bände mit 2432 Seiten und einer Text-CD zum Preis für 499 Euro überwiegend von Institutionen gekauft würden. Das Buch dokumentiert „Hitler Tag für Tag“, eine Art kommentierter Terminkalender: Mit wem hat er gesprochen, um was ging es dabei, wie gelangte er von Ort zu Ort und was geschah parallel in Europa und der Welt. Einzigartig und unersetzlich für Wissenschaftler. Es scheint jedoch so, dass mehr als sechzig Prozent der Käufer Privatpersonen waren. Hitler ist die bekannteste Person der Weltgeschichte. Selbst wenn jemand irgendwo auf der Welt Deutschland nicht auf der Karte findet, hat er eine Vorstellung davon, wer Hitler war. Auf der Grundlage unseres Buches „Warum ich Nazi wurde“ haben mehrere Theater szenische Lesungen entwickelt, so in Darmstadt ein Zwölfstundenprogramm zum Auschwitz-Gedenktag.
Nun also „Ich traf Hitler“, auf den ersten Blick eine Sammlung von Erinnerungen überzeugter Nationalsozialisten und harmloser Mitläufer. Doch die hier wiedergegebenen Interviews sind vielfältig. Man muss genau lesen, um festzustellen, dass hier die erste antisemitische Äußerung Hitlers bezeugt wird. Elisabeth Grünbauer, geb. Popp, Tochter von Hitlers Vermieter Josef Popp in München:
„Und er hat sich immer beschwert, dass zum Beispiel in Österreich also eine Lage herrscht, die ihm nicht passt, und vor allen Dingen, dass er auch nie in Österreich zum Militär will, …, weil ihm Österreich zu verjudet war. … Das war ein Hauptthema von ihm, dass er eben gesagt hat, dass eben Wien … Wien und Österreich sei[en] so verjudet, das ist ein Grund gewesen, dass er gegangen ist. Und er auch nicht für Wien oder beziehungsweise für Österreich in den Krieg gehen wollte . … Das hat sich halt im Gespräch immer wieder ergeben. Er ist ja sehr oft zu meinem Vater in den Laden gekommen. … Die Debatten waren oft stundenlang, dass es für meinen Vater, der ja hat arbeiten müssen, nicht immer gerade angenehm war. Aber sonst haben sie sich schon gut vertragen. …“
Das Buch enthält Schilderungen, die dem Leser peinlich oder oberflächlich erscheinen können. Zum Beispiel, wenn Margarete Mittlstrasser berichtet, wie sie Eva Braun den Rücken wäscht, wenn Gretel Roelofs von Hitlers Sellerieschnitzeln erzählt, Willi Schneider berichtet, dass er Hitler einen schweren Sessel auf den Zeh gestellt hat, oder wenn Egon Hanfstaengl schildert, dass er als Kind gern mit Hitler Eisenbahn gespielt hat, weil „Onkel Dolf“ so phantastische Geräusche erzeugen konnte oder Hanfstaengls Mutter ihm erzählte, dass Hitler eines Tages auf einen Stuhl stieg, sich ein Tischtuch als Toga umhängte und ihr vormachte, wie er sich als Bub als römischer Senator geübt habe. Auch die Geschichte, wie Frau Hanfstaengl und Hitler verzweifelt Göring suchten und in einer Konditorei fanden, ist eher irgendwie komisch. Versetzt man sich aber nur einmal in die Lage eines Stoffentwicklers für einen anspruchsvollen Film über Hitler, kann man verstehen, dass ihm keine 2000-Seiten-Hitler-Biographie von Ian Kershaw mit all ihren gründlichen Analysen und Reflektionen so richtig weiterhilft, sondern er wissen möchte, wie sich das auf dem Obersalzberg ganz konkret abgespielt hat, um damit realistische, aber eben nicht peinliche und oberflächliche Szenen zu entwerfen.
WIDERSPRÜCHE IN DEN INTERVIEWS
Mit Anmerkungen versehen und kommentiert werden in diesem Buch aber Aussagen, die objektiv nicht stimmen, oder Fakten, die in der Erinnerung falsch wiedergegeben sind. Subjektive Einschätzungen und widersprüchliche Wahrnehmungen der Person Hitlers und seiner Äußerungen bleiben bestehen. Elisabeth Grünbauer, geb. Popp, berichtet eher beiläufig, aber doch präzise von den antisemitischen Äußerungen Hitlers in München, während sein Kammerdiener Karl-Wilhelm Krause erzählt, dass Hitler bei einer Autofahrt sagte: „… dass er im Ersten Weltkrieg als Meldegänger selbst Juden erlebt hätte, die sogar das EK I bekommen hätten. Die könne man doch jetzt nicht verfluchen.“
Als Widerspruch könnte man auch die Äußerung des einfachen Soldaten Heinz Stendtke ansehen, dass der deutsche Soldat im Osten ein ritterlicher Soldat war, und die Schilderung des Panzerkommandanten Rudolf von Ribbentrop, wie russische Infanteristen aus dem Hinterhalt mit dem Panzer überfahren wurden.
Hans Gotthard Pestke, Kommandeur eines Infanterie-Regiments, berichtet: „Der Kommissarbefehl ist mir selbst merkwürdigerweise damals nie bekannt gewesen.“ Im gleichen Gespräch sagt er aber auch: „Bei der Vorbesprechung für den Kriegsbeginn gegen Russland hat der damalige Divisionskommandeur diesen Befehl vorgelesen und mit der Bemerkung abgetan, in meiner Division wird dieser Befehl wohl nicht ausgeführt. Damit war die Debatte darum abgeschlossen.“ Ein auffälliger Widerspruch, der eine deutliche Sprache spricht.
WER HITLER NICHT GETROFFEN HAT
Einige der Interviewten haben Hitler nicht persönlich getroffen, aber ihre Aussagen sind von Bedeutung. So die von Gisela Herrmann, der Gebietsmädelführerin des Bund Deutscher Mädel Berlin. Sie war in den letzten Tagen während des Untergangs in der Nähe des Bunkers im Notlazarett unter der Neuen Reichskanzlei und spielt eine Rolle im Buch von Johanna Ruf „Eine Backpfeife für den kleinen Goebbels“, ebenfalls erschienen im Berlin Story Verlag, in der die letzten Tage des Dritten Reiches aus der Sicht eines fünfzehnjährigen BDM-Mädels geschildert werden.
Auch Theodor Oberländer kann nicht von einem persönlichen Treffen mit Hitler berichten. Oberländer nahm 1923 am Putschversuch in München teil, war bis 1945 Nationalsozialist und wurde in der Bundesrepublik Bundesminister für Vertriebene. Besonders interessant sind seine Schilderungen über den russischen General Andrei Andrejewitsch Wlassow, der am Ende des Zweiten Weltkrieges auf der Seite der Nationalsozialisten mit 50.000 Soldaten gegen Stalin und für ein von Kommunisten freies Russland kämpfen wollte.
Auch einige weniger prominente Gesprächspartner, die Hitler nicht getroffen haben, kommen in diesem Buch zu Wort, weil wir ihre Aussagen für wichtig halten. Emil Klein nahm schon als junger SA-Mann 1923 an Hitlers
Marsch auf die Feldherrnhalle teil. Erika Morgenstern schildert die Lage der Zivilisten in Königsberg nach der Kapitulation, Heinz Stendtke vermittelt ebenfalls aus der Gegend um Königsberg ein Bild, nach dem „der deutsche Soldat sich anständig gegenüber der Zivilbevölkerung benommen hat“.
KARL HÖFFKES – DER HISTORISCHE DOKUMENTAR
Nahezu alle Interviews in diesem Buch liegen als Video im Digi-Beta-Format vor. Sämtliche Film-Interviews führte Karl Höffkes. Wenn man im Fernsehen auch nur einen Film über den Nationalsozialismus gesehen hat, wird man mit großer Wahrscheinlichkeit etwas aus der Sammlung Höffkes gesehen haben. Karl Höffkes sammelt Privatfilme, die jenseits der NS-Propaganda und ohne Schere im Kopf gedreht worden sind, die den Nationalsozialismus ungeschminkt darstellen. Aus dem Archiv von Karl Höffkes stammt zum Beispiel der weitaus überwiegende Teil des Materials zum Siebeneinhalb-Stunden-Film „Wer war Hitler“ von Hermann Pölking, als DVD erschienen im Berlin Story Verlag.
Das Archiv Karl Höffkes AKH umfasst den mit Abstand größten Fundus an digitalisiertem Material zum Nationalsozialismus, insgesamt mehr als 2.400 Stunden. Höffkes trug bei zu Dokumentationen in zahlreichen Fernsehsendern, Gedenkstätten und Museen.* Sein Material wird eingesetzt in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und im US Holocaust Memorial Museum in Washington, den bedeutendsten Stätten zu Holocaust-Forschung, der Erforschung jüdischer Geschichte und des Nationalsozialismus. Höffkes stellt diesen Institutionen sein Material für Forschungszwecke kostenlos zur Verfügung. Einen Eindruck vom Umfang und von der Tiefe des Archivs vermittelt seine Website karlhoeffkes.de.
„Wer gegen das Vergessen ist, der muss bewahren“, erklärt Karl Höffkes seine fortgesetzte Sammlungstätigkeit. „Darum sammle ich Filme und suche nach Möglichkeiten, sie für die Zukunft zu bewahren. Film ist vielleicht das einzige Medium, das alle Generationen erreicht und das universell verstanden wird. Daher hoffe ich, dass die von mir zusammengetragenen Filmmaterialien ihren Teil dazu beitragen, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte zu befördern, dem Vergessen entgegenzuwirken und die Demokratie zu stärken.“ In einem 14-Minuten-Beitrag des Wissensmagazins „Galileo“, der auf YouTube abgerufen werden kann, lernt man Karl Höffkes und seine Arbeit kennen.
Jede in diesem Buch dokumentierte Erinnerung belegt eine der zentralen Thesen des Historikers Ian Kershaw: „Hitlers Name steht zu Recht für alle Zeiten als der des obersten Anstifters des totalen Zusammenbruchs der Zivilisation in der Moderne. Die extreme Form persönlicher Herrschaft, die ein ungebildeter Wirtshausdemagoge und rassistischer Fanatiker, ein narzisstischer, größenwahnsinniger, selbsternannter nationaler Retter in einem modernen, wirtschaftlich fortgeschrittenem, kultivierten Land, das berühmt war für seine Denker und Dichter, erwerben und ausüben konnte, war für den schrecklichen Lauf der Ereignisse jener schicksalhaften zwölf Jahre ganz entscheidend.“*
Alle bezogen sich auf Hitler. Jeder General, alle Minister, alle Parteifunktionäre waren von Hitlers Entscheidungen abhängig. Er setzte seine Meinung, seinen Willen, seine Projektionen durch – mit minimalen, hier ebenfalls beschriebenen Abweichungen. Alle unterwarfen sich ihm.
Diese vollständige Unterwerfung ist eines der Themen in der Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“ im Berlin Story Bunker am Anhalter Bahnhof in Berlin, eng verknüpft mit dem Berlin Story Verlag. Auch dort wird gezeigt, was Kershaw beschreibt: „Hitler war der Haupturheber eines Krieges, der zu mehr als 50 Millionen Toten führte … er war der Hauptinspirator eines Völkermords, wie ihn die Welt niemals kennengelernt hatte …“*
Wir hoffen, dass das vorliegende Buch einen weiteren Beitrag dazu leistet, zu verstehen, wie es zu dem totalitären NS-System, zu Krieg und Völkermord kommen konnte.
Wieland Giebel
Januar 2020
*im Tagesspiegel vom 28. April 2019
*RBB, ORF, SWR, ARTE, WDR, NDR, BR, MDR, ZDF, RAI, BBC, französisches, russisches, japanisches, niederländisches, spanisches Fernsehen National Geographic, Stiftung Deutsche Kinemathek, Haus der Geschichte, Haus der Deutschen Kunst, Filmmuseum Potsdam, Bundeskunsthalle, Stiftung Topographie des Terrors, Muzeum II Wojny Swiatowej w Gdansku (Museum des Zweiten Weltkrieges in Danzig)
*Ian Kershaw, Hitler 1889–1945, S. 1046f.
Reichsjugendführer
„Axmann, es kommt etwas vollkommen Neues“
Elisabeth Grünbauer, geb. Popp
Tochter von Hitlers Vermieter in München
„Hitler war zu dieser Zeit wirklich arm, sehr arm“
Hitlers Patensohn
„Der Hitler war sehr froh, bei uns essen zu können“
Referent im Reichsfilmarchiv Berlin
„Er bezeichnete sich selbst als Trommler“
Sohn von Siegfried und Winifred Wagner, Enkel von Richard Wagner
„Bei uns war er immer Privatmann“
Teilnehmer am Marsch auf die Feldherrnhalle
„Hitler war noch nicht der Führer“
SS-Obersturmführer und Ordonnanzoffizier
Köchin in Reichskanzlei und Führerbunker
„Er war ausgesprochen anspruchslos“
Hitlers Kammerdiener
„Hitler war ein einsamer Mensch“
Sekretärin des Düsseldorfer Gauleiters
Generalbaurat für die „Hauptstadt der Bewegung“
„Hitler war für mich eine außerordentliche Persönlichkeit“
Köchin und Hausverwalterin auf dem Berghof
„Für uns waren sie wie ein Ehepaar“
Angehöriger der SS, Hausmeister auf dem Berghof
„Zum Schluss hat sie sich sogar mit meiner Pistole erschossen“
Hausverwalter auf dem Berghof
„Wenn Hitler tobte, hat man es in jedem Zimmer hören können“
SS-Obersturmbannführer, Adjutant im Stab Adolf Hitlers
„In diesen Dingen war er sehr genau“
Schülerin
„Wie komm ich wohl hier zum Führer?“
Stellvertretender Gauleiter der Steiermark
„Der einzelne Mensch ist hineingeboren in das Schicksal seines Volkes“
SS-Hauptsturmführer und persönlicher Referent von Außenminister Joachim von Ribbentrop
„Die Frage ist eben, wer hat es gewusst“
Ehefrau von Nicolaus von Below, Oberst der Luftwaffe
„Wir aßen woanders besser als bei Hitler“
Filmschauspielerin
SS-Begleitkommando Adolf Hitler
„Wir sagten damals Chef zu ihm“
Kameramann bei Leni Riefenstahl
„Ich habe Hitler durchaus menschlich in Erinnerung“
Major der Wehrmacht, Sohn des Oberbefehlshabers der Panzerverbände Heinz Guderian
„Verbrechen habe ich nirgendwo erlebt“
Doktor der Agrarwissenschaft und Minister in der Regierung Adenauer.
„Hitler wollte alles alleine machen“
Kommandeur des SS-Regiments „Der Führer“
„Er strahlte Siegeszuversicht aus“
Telefonist im Oberkommando der Wehrmacht
Geheimdienst-Kurier
Philipp Freiherr von Boeselager
Offizier der Wehrmacht und Mitwisser der Verschwörung vom 20. Juli 1944
„Es ist ein langer Weg von der Skepsis über die Ablehnung bis zum Widerstand“
Major und Panzerkommandant
„Von diesem Mann kann man nicht mehr irgendwelche Entscheidungen verlangen“
Major im Generalstab der Wehrmacht
„Er sprach in einem charmanten Plauderton“
Oberleutnant der Reserve
„Er ließ keinen Zweifel daran, noch eine Wende des Krieges herbeiführen zu können“
Johann Adolf Graf von Kielmannsegg
Oberst in der Operationsabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht
„Hitler war ein Genie des Bösen“
Ingenieur im Reichswehrministerium
„Schießen Sie, auf meine Verantwortung“
Major
„Die technischen Kenntnisse Hitlers waren erstaunlich“
SS-Obersturmbannführer
„Mein Führer, das muss ich erst prüfen“
Kampf- und Jagdflieger
„Er wünschte mir weiterhin viel Glück“
Bernd Freiherr Freytag von Loringhoven
Adjutant des Chefs des Generalstabs des Heeres
„Er war ein körperliches Wrack“
SS-Obersturmbannführer, Sohn des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop
„Hitler war in diesem Fall unser Schicksal“
Hitlerjunge, Melder bei Reichsjugendführer Artur Axmann
„Als ich Hitler sah, war ich schockiert“
Sekretärin Hitlers
„Es war seine eigene Endlösung“
Angehöriger der Leibstandarte Adolf Hitler, Telefonist im Führerhauptquartier
„Hitler ist tot, wer ist jetzt mein Chef?“
Ernährungsinspekteur in Wehrmacht und SS, Arzt in der Reichskanzlei
„Um 15 Uhr wird der Führer aus dem Leben scheiden“
Gebietsführerin des Bund Deutscher Mädel Berlin
„Er brachte mir Hitlers Pistole“
Fahnenjunkerunteroffizier beim Artillerieregiment der 5. Panzerdivision
„Der deutsche Soldat im Osten war ein ritterlicher Soldat“
Zivilistin aus Königsberg
„Wir waren die Verschollenen, uns gab es nicht“
Hitlers Antisemitismus schon vor dem Krieg
Die Ursprünge von Hitlers Antisemitismus vor 1914 – Eine Neubewertung
von Thomas Weber
Moshe Zimmermanns Stellungnahme zu Webers Artikel
von Wieland Giebel
Personen-, Sach- und Ortsregister
* Der oder die Befragte hat Hitler nicht persönlich getroffen