23.45 – Einchecken
„Hier bitte scannen, hier die grüne Weste für Volunteers und jetzt noch das Armband, wie im Club“, reicht mir die junge Frau von der Berliner Stadtmission in hellblauer Weste meine Utensilien aus Container 8, dem mit Fenster. Mit der App checke ich ein ‚Willkommen Wieland‘. Meine Nachtschicht geht von Mitternacht bis 7.15 Uhr.
Dreißig Bierzeltgarnituren stehen in der Welcome Hall in drei Reihen, wie in einem Bierzelt. Die Übersetzer, auch Freiwillige, haben Westen in Bauarbeiter-Farben, die „Single Children“-Leute knallrot und die von DB-Sicherheit gelb.
0.30 – Brezeln
Einer von „Backwerk“ aus dem Hauptbahnhof bringt in einem Bananenkarton Brezeln, Kuchen, Brötchen, die Reste des Tages, zum Catering-Stand. Der ist aufgebaut aus Europaletten mit Tischblättern darauf. Es gibt Suppe mit und ohne Fleisch, Kaffee, Tee, Äpfel, Schokoriegel und Sandwich-Dreiecke wie an der Tanke. Ein kleiner Stand mit Binden und Tampons schließt daran an und wirkt wie ein kleiner Drogeriemarkt. Wer beim dm-drogerie Markt solche Artikel in größeren Mengen gekauft hat, wurde an der Kasse gefragt „Spende?“ und erhielt unaufgefordert zehn Prozent Rabatt – wie ein Sohn von mir.
0.45 – Black People
Ein tiefschwarzer Flüchtling soll vom Informationsstand zum DB-Reisezentrum gebracht werden. Dazu holt mich ein Volunteer herbei, der für zwei Wochen aus Schwaben gekommen ist, um zu helfen. Er ist Rentner, Sohn einer Bauernfamilie mit sechs Kindern. Ich bringe den jungen Mann, der gut englisch spricht und in der Ukraine studiert hat, in den Hauptbahnhof. „Die Papiere sind geprüft. Er ist anspruchsberechtigt und kann ein Ticket ausgestellt bekommen.“ Der Herr am Fahrkartenschalter ist damit zufrieden. Beim Gehen spricht mich ein Volunteer an, der als Ansprechpartner im Reisezentrum zur Verfügung steht: „Ich hatte ihn zu Euch geschickt. An der polnischen Grenze geht es mit Schwarzen. Gestern hatte ich eine Frau, die über Ungarn kam und in vier Bussen nicht mitgenommen wurde.“
1:00 – Bus zur Messe
Der nächste Bus der BVG fährt zur Messe. Dort kann man Schlafen und Duschen. Für die Übersetzer liegt ein Zettel mit den unterschiedlichen Ansagen bereit, weil nicht alle Muttersprachler sind. Hannah: „Ich war ein Jahr zum Austausch in Moskau. Es geht so. Wir haben aber leider auch viel Englisch gesprochen.“
1:30 – 3000 Kilometer
„Meine jüngere Schwester ist geblieben. Ich bin 70. Es war eine sehr schwere Entscheidung. Aber Saporischja am Dnjepr wird jetzt auch bombardiert. Obwohl bei uns so viele Studenten uns anderen Ländern sind. Wenn ich bei den Bekannten in Essen ankomme, bin ich 3000 Kilometer unterwegs gewesen. Ich habe keine Worte für den freundlichen, offenen Empfang in Deutschland. Ab Warschau gab es Essen und Trinken. Deutsch habe ich gelernt, weil ich wollte. Die Eltern meines früheren Chefs in Saporischja waren Deutsche, sie sprachen zu Hause deutsch. Mit meiner Schwester skype ich. Wenn es mir nicht so gut geht, sehe ich mir TicToc-Videos an. Kennen Sie das?“
80.000 ausländische Studenten waren in der Ukraine, davon 18.000 aus Indien, von denen viele in Saporischja Medizin studierten. Das kann sich der Mittelstand leisten – wie ein entfernter Cousin von mir, 19, erst einen Monat dort, gleich das Bein gebrochen, mit einem Busshuttle herausgeholt, mit einem von der indischen Regierung organisierten Flugshuttle ab Budapest ausgeflogen.
2:00 – Kindergeschrei
Wütendes Kindergeschrei. Eine Mutter hält einen Zweijährigen fest, der in einer Schüssel hellbraune, knusprige Leckereien entdeckt hat. Seine Mutter sieht darin aber Hundetrockenfutter. Eine Freiwillige, von Beruf eigentlich bei einer Bundesbehörde, zwei Kinder, lenkt den Zweijährigen mit Spielzeug ab und bringt die beiden wieder in die Kinderecke.
Auf dem Tisch über der Fressschale stehen drei Bananenkartons mit Tierfutter für Hunde und Katzen, alles von Unternehmen oder Privaten gespendet, organisiert von einer Tierschutzvereinigung. Die zahlreichen Hunde und Katzen sind gut gepflegt, kommen an der Leine, in einer Handtasche oder Reise-Boxen.
2:30 – Genervt
Der 17jährigen gehen die drei von „Unbetreute Kinder – Single Children“ sichtbar auf die Nerven. Sie spricht zwar kein Englisch, ist aber gut organisiert, offenbar Reise-erfahren, hat ihre Sachen in kleinem Rollkoffer und alle Papiere übersichtlich zusammen. Ihre Klamotten sind ordentlich und sie sieht gut aus. Eine Übersetzerin wird dazu geholt, von Beruf eigentlich selbständige IT-Unternehmensberaterin, Mitte Dreißig. Von außen wirkt es wie ein kleines Verhör – das zur Zufriedenheit aller endet. Die Sensibilisierung aller Helfer ist in Hinsicht auf allein-reisende junge Frauen sehr hoch.
2:40 – Leblos
Eine Frau, dünn, Mitte 50, hält ihre Handtasche auf dem Schoß und blickt über Stunden mit leeren Augen ins Nichts. Die Freiwillige bei den Hygieneartikeln hat gerade nichts zu tun, setzt sich zu ihr, spricht deutsch mit ihr, streichelt sie leicht, zeigt Nähe.
3:00 – Schichtende Sanitäter
Schichtende der Rot-Kreuz-Sanitäter. Ab jetzt sollte nichts Größeres mehr passieren. Aber ein Volunteer ist als Sanitäter ausgebildet, Mitte dreißig, Pastor einer freien evangelischen Kirche, der kürzlich Medikamente und Klamotten an die polnisch-ukrainische Grenze gebracht hatte. Holländer organisierten da die Zelte, alle Nationen arbeiteten ohne Anweisung und Regie zusammen, auch eine jüdische Hilfsorganisation.
3.30 – Bus aus Koschowa
„40 Leute im Bus“, sagt die Schichtleiterin, Mitte 20. „Holt die mal rein.“ Der Bus ist nicht angekündigt. Ich mache dort kurzes Sightseeing und zeige: „Kanzleramt – Angela Merkel; Reichstag, das Parlament; Brandenburger Tor; Hauptbahnhof; Essen und Trinken.“ Viele kommen mit Rollenkoffern, einige haben Plastiktüten oder Ikea-Tragetaschen. Der Bus aus Kosjowa, einem Dorf südlich von Lviv, bringt auch Flüchtende aus anderen Regionen mit.
3:40 – Wlan
Vor dem ersten Kaffee wollen die meisten zu Hause Bescheid sagen und dazu Wlan einrichten, mit QR-Code oder einem Passwort. Am Rande des Zelts liegen Steckdosen zum Laden. Ladekabel gibt es aus einem Karton. Überwiegend werden USB C gebraucht. Die Flüchtenden können sie behalten.
3:45 – Übersetzen
Eine ältere Dame hält mir ihr DB-Ticket hin und zuckt mit den Schultern. Easy. Die Abfahrtzeit ist einfach zu kennzeichnen; ich male Gleise auf einen Zettel und markiere ihr Gleis 13. Verstanden.
4.00 – Zug nach Jena
Die junge Frau ist bestimmt vom Land, denke ich, sie ist so unbeholfen. Zwanzig Jahre alt, kein Wort englisch außer Thank You. Mit ihrer Übersetzer-App stellt sich heraus, dass sie aus Odessa kommt. Warum sie gerade in diesem Bus ist und wie die drei jungen afghanischen Männer in den Bus gelangt sind, finde ich nicht heraus. Mit der jungen Frau gehe ich zum Nachtschalter der Bahn. „Eine ukrainische Fahrkarte nach Jena bitte.“ Das geht ohne Nachfrage, ohne Ausweis, sofort. Ich bürge quasi mit meiner hellgrünen Volunteer-Weste dafür.
4:20 Zucker ist alle
Dass ist tragisch. Wie sollen die Besucher ohne Zucker ihren Chai trinken. Im Bahnhof haben alle Läden zu. „Könnte ich vielleicht ein Pfund Zucker für die Welcome Hall kaufen,“ frage ich bei LeCroBag. Kurze Nachfrage hinten beim Chef, dann kommt die junge Frau mit einer Packung. Sie nimmt kein Geld.
4:30 – Erste Fernzüge: München, Interlaken, Düsseldorf
Mit der Englischlehrerin aus Kyjiw und ihren beiden Kindern ist die Kommunikation einfach. „Kiew“, sagt sie, sei aus dem russischen abgeleitet. Auf dem Weg zu Gleis 1, schwer im Hauptbahnhof zu finden, frage ich: „Sollen die Kinder in Deutschland eingeschult werden?“ – „Das kommt darauf an, wie lange es dauert.“ Die Tochter versteht meine Frage, schüttelt mit dem Kopf. „Wir wollen nach Hause!“ Die Lehrerin, deren Mann Chirurg ist, hat online eine Familie in München gefunden, bei der sie unterkommen.
4:45 – Mathe-Professorin
„Wie mache ich das, um elf Uhr Wlan und etwas Ruhe zu haben?“ fragt mich die Frau Mitte dreißig auf englisch. „Meine Studenten sind alle aus Odessa weg. Ich bin weg. Aber unser Mathe-Kurs an der Uni geht online weiter. Hier in diesem Trubel kann ich mich nicht so gut auf meinen Unterricht konzentrieren.“
5:00 – Eine Zeichnung für mich
Der Junge, acht Jahre, hat sich in die Kinderecke abgesondert und malt. Papier ist genug da. Ich reiche ihm Stifte, weil die an seinem Tisch abgebrochen sind. Wir kommen uns näher. Er malt für mich ein gelb-blaues Herz mit „Charkiw“ auf der einen Seite, „Ukraine“ auf der anderen. Vier Tage, 2000 Kilometer, raus aus den Bomben. Unser Weg trennt sich, als er bald mit seiner Mutter zum Zug muss. In der Kinderecke liegen Pixi-Ausmalbücher, Autos, Legos. Für ganz kleine Kinder ist eigentlich nur die Mutter wichtig. Unerträglich wird es in dem Alter, in dem sie die Situation realisieren und wissen, was ihr Vater macht. Mädchen mit 13 finden zusammen und tanzen.
5:15 – Tinder?
Etwas im Abseits stehen kurz nach deren Schichtwechsel zwei junge Männer von der DB-Sicherheit und zeigen sich gegenseitig etwas auf ihren Smartphones, machen komische Zeichen dabei, ich werde neugierig. Tinder? Sie tauschen Tortenrezepte aus.
6:30 – Drei Afghanen
Die drei Afghanen aus dem Bus, von denen einer minimal Englisch spricht, haben sich erholt und versuchen über ihre Smartphones weiterzukommen. Sie sehen aus wie Studenten, gehören ja nicht zu den Ukraine-Flüchtlingen, erhalten keine Gratis-Bahnkarten, haben auch gar kein Ziel. Also, das Ziel war Deutschland. Das haben sie in Sichtweite des Kanzlers erreicht.
7:00 – Ablösung
Die Volunteers zum Schichtwechsel sind sehr pünktlich. Toll. Denn es ist bitterkalt geworden weil die Türen auf beiden Seiten des Zelts dauern auf- und zugehen.
8:00 – Zu Hause
Über volunteer-planner.org sehe ich einfach, wann ich mich für den nächsten Termin zum Helfen anmelden kann. Ich muss gar nichts selbst organisieren, mich um nichts kümmern, nur mich selbst als Rädchen im Getriebe dieses Hilfsapparats zur Verfügung stellen.