Terroristen, meine Nachbarn, nicht meine Freunde

Wie das damals mit der RAF war und was ich davon gehalten habe – das werde ich jetzt immer wieder gefragt. Da muss ich nicht nachdenken, weil ich im Juli 1981 eine Broschüre dazu geschrieben habe. Hier unten ist die Digitalisierung.

Die vor wenigen Tagen, am 26. Februar 2024, festgenommene Terroristin Daniela Klette war in Kreuzberg quasi meine Nachbarin, sie wohnte einige hundert Meter entfernt auf meinem täglichen Weg zum Berlin Story Bunker. Im Bunker sind ihre Taten ausgestellt. Die Toten, genauer gesagt Fotos von allen von der RAF ermordeten Menschen, und ein Foto der Strafanstalt Weiterstadt bei Darmstadt, einer „Musteranstalt des humanen und sicheren Strafvollzugs“. Wie Daniela Klette und ihre Genossen 200 Kilogramm (!!!) Sprengstoff auf das gut bewachte Gelände des fertiggestellten, noch nicht bezogenen Gefängnisses brachten, ist wohl bis heute nicht klar. Neben der Kalaschnikow im Kleiderschrank und weiteren Waffen fanden die Polizisten auch 40.000 Euro in bar und – ein so hohes Sicherheitsbedürfnis hat es bei Terroristen bisher nicht gegeben – 1,2 Kilogramm Gold. Der Tagespreis für Goldbarren (1 kg) liegt heute bei ca. 64.000 EUR.

Als ich 1981 die Broschüre über den Unterschied zwischen IRA und RAF schrieb, waren meine Nachbarn in dem Doppelhaus auf dem Gelände der Zeche Prinzregent in Bochum von den „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“. Sie setzen gerne Adler-Bekleidungsmärkte in Brand, um ihre Solidarität mit den weit entfernten, ausgebeuteten Näherinnen in Malaysia auszudrücken. Wenn sie etwas viel geraucht hatten, rissen sie auch schon mal den niedrigen Zaun weg, der die Kinder des Kinderladens daran hindern sollte, auf die Straße zu rennen. Die Bürgerinitiative gegen den Bau einer Autobahn durch die Zechensiedlung war ihnen zu piefig, zu wenig revolutionär. Aber sonst sind wir gut miteinander ausgekommen. Sie hielten mich für einen marxistisch-leninistischen Spießer, der aus nicht nachzuentfindendem Grund sechs Jahre lang Lagerarbeiter und Gabelstaplerfahrer in einer Fernsehfabrik war – da, wo mehr als 2000 Ruhrgebiets-Frauen arbeiteten.

Noch früher, 1971, überfiel die RAF in Kassel Banken. „Frauen hatten das Kommando“ titelte die Hessische Allgemeine damals. Ich verkehrte zu der Zeit in der gleichen Wohngemeinschaft, in der auch Astrid Proll häufig war. BILD damals: „Am 15. Januar 1971 um 9.33 Uhr kam der Doppelschlag: Neun Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF) überfielen zwei Zweigstellen der Stadtsparkasse in Kassel. Mit Pistolen bedrohten die Terroristen Angestellte und Kunden. Die linksradikalen Täter feuerten auch Schüsse ab. Insgesamt erbeuteten sie 114 715 DM.“ Das war ein Freitag. Am Wochenende stand ich vor der Entscheidung, mich dazu irgendwie positionieren zu müssen. War das einfach? Ich hatte in Kassel ein Kindertheater begonnen, welches das GRIPS als Vorbild hatte. Aber reichte das, um zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen oder war doch ein Schlag mehr Entschiedenheit notwendig wie bei den Leuten von der RAF? Ich entschied mich dazu, die Gesellschaft lieber mit anderen zusammen verändern zu wollen als gegen sie.

In den 1970er Jahren war ich öfters in Belfast. Dort arbeitete ich in den langen Sommerferien zunächst auf Spielplätzen mit Jugendlichen, bekam mit, wie sie von der britischen Armee schikaniert und gejagt wurden – und lernte Leute von den bewaffneten Organisationen gegen die britische Besatzung Nord-Irlands kennen. Darüber berichte ich in meinem Buch Das kurze Leben des Brian Stewart. Brian war 13, wurde von einem britischen Soldaten mit einem Plastikgeschoss umgebracht, als er an einer Bude Süßigkeiten holen wollte. Ich kannte ihn. Und seine Mutter und seine Geschwister. Später hatten mich die Briten auf dem Kieker und steckten mich eine Woche in den Bau, zehn Verhöre. Das steht auch alles im Buch.

Soweit zum Hintergrund der Broschüre, die ich damals auf Bitten der Kommunistischen Gruppe Bochum schrieb:

Mit der Unterstützung der IRA tun sich viele so schwer, weil es der britischen Propaganda gelungen ist, sie in eine Reihe mit RAF, 2. Juni und den Roten Brigaden zu stellen. Und weil deutsche Sympathisantengruppen dieses Bild der Gleichheit zwischen Terroristengruppen und der IRA auch fördern. In Wirklichkeit haben die irischen Republikaner weder von ihrer Entstehung her, noch von den Zielen, noch von der Praxis oder gar der Unterstützung her gesehen etwas mit den genannten Terroristengruppen zu tun.

Die Irisch Republikanische Armee (IRA) und die Irisch Nationale Befreiungsarmee (INLA) sind bewaffnete Organisationen, die sich aus der Bevölkerung heraus gegen die britische Besatzung gebildet haben.

Die IRA und die RAF: Zwei völlig gegensätzliches Gruppierungen

Wem gehört Irland?

Die freiwilligen Soldaten der Irisch Republikanischen Armee auf den Fotos begleiten den durch den Hungerstreik zu Tode gekommenen Raymond Mc Creesh auf dem gesamten Weg zur Beerdigung, treten bewaffnet auf, feuern die Ehrensalve für den Genossen, der nur 24 Jahre alt wurde – und haben bei ihrem öffentlichen Auftreten scheinbar keine Probleme. An Tausenden von Menschen marschierten sie an diesem Tag vorbei, wie zu jedem anderen Begräbnis eines IRA-Kämpfers oder einer Kämpferin, ohne von den Besatzungstruppen daran gehindert zu werden.

Aber: Die IRA ist illegal, das Land ist weiterhin von den Briten besetzt und es zeichnet sich immer noch keine politische Lösung oder zumindest ein Truppenabzug ab.
Diesem offenen Auftreten der IRA steht das der britischen Regierungschefin Thatcher entgegen. Bei ihrem Besuch nach dem Tode von Bobby Sands konnte sie nur heimlich in diesen Teil ihres Landes kommen, musste nach wenigen Stunden wieder ausgeflogen werden, weil niemand für ihre Sicherheit garantieren wollte. Als die Königin vor einigen Jahren nach Nordirland kam, betrat sie das Land nur zweimal drei Stunden und verbrachte die übrige Zeit auf einer Jacht vor der Küste, geschützt durch Luftwaffe und U-Boote.

Die IRA kann in diesem Land offensichtlich mit großer Sicherheit auftreten, die Leute, die sich anmaßen dieses Land regieren zu wollen, können sich nur verstohlen für kurze Zeit blicken lassen und müssen ansonsten ihre Soldaten vorschicken.

Krieg gegen die Besatzungstruppen

Um die Situation in Nordirland noch etwas anschaulicher zu machen: britische Saracenpanzer, Jeeps oder Fußpatrouillen kommen in kurzen Abständen durch die katholisch-republikanischen Viertel; die Innenstadt von Belfast ist vollkommen abgesperrt, man kommt nur nach einer Kontrolle an einigen Durchgangsstellen hinein. Der Kapitalismus befindet sich sozusagen hinter Gittern.
Ganze Viertel sind zerstört, die Häuser stehen leer, Türen und Fenster sind zugemauert.
Parolen gegen die britischen Besatzungstruppen überall. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich dieses Land mitten in einem Krieg befindet.

IRA und INLA (Irisch-Nationale-Befreiungs-Armee) führen tagtäglich den Krieg gegen die jetzt 13.000 britischen Soldaten, die seit zehn Jahren die republikanische Bevölkerung nicht zum Aufgeben bringen konnten.
Seit vielen Jahren werden täglich mehrere Angriffe gegen die Besatzungstruppen direkt und gegen wirtschaftliche Ziele durchgeführt. Die wirtschaftliche Kriegsführung gegen britischen Besitz soll den ohnehin vor dem wirtschaftlichen Ruin stehenden britischen Staat in die Knie zwingen.
Seit 1976 hat sich die Anzahl der Gefangenen versechsfacht, was den Kardinal O’Fiaich zu der Äußerung bewegte: „Wie kann die Kriminalitätsrate unter normalen Um-ständen bei einem Volk in vier Jahren um das Sechsfache steigen?“
Des Rätsels Lösung: Die Gefangenen, denen bis 1976 der politische Status gewährt wurde, werden seitdem als gewöhnliche Kriminelle behandelt. Gegen diese Kriminalisierung des Freiheitskampfes mit 800-jähriger Tradition und gegen die unmenschlichen Haftbedingungen im britischen KZ Long Kesh und im Frauengefängnis Armagh richtet sich der gegenwärtige Hungerstreik, der zu mehreren Todesopfern geführt hat, von denen Bobby Sands der erste war.
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Die fünf Forderungen der Gefangenen:
– Keine Gefängniskleidung
– Keine Gefängnisarbeit
– Selbständige Gestaltung der Freizeit
– Ein Besuch, ein Paket und ein Brief pro Woche
– Wiedereinführung des Rechts auf vorzeitige Entlassung.
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Jahrhunderte des Widerstandes

Die republikanischen Freiheitskämpfer berufen sich auf eine Jahrhunderte lange Geschichte des Widerstandes, in der es 1649 zu einem ersten Höhepunkt kam, als der Engländer Cromwell mit seinen schottischen und englischen Soldaten Irland vollständig erobern wollten.
Er versprach den Soldaten das Land, ließ die Bevölkerung in elf Jahren von eineinhalb Million auf 600.000 ausrotten, verbot den Katholiken, Land zu besitzen, öffentliche Ämter zu bekleiden und Handel in größerem Umfang zu betreiben. Die Sprache wurde ebenso verboten wie das Musizieren, weil die Briten nicht verstehen konnten, ob es sich um Widerstandslieder handelte.Cromwells Soldaten, die sich hauptsächlich im Norden Irlands ansiedelten und die Vorfahren der heutigen Zweidrittel Mehrheit an Protestanten waren, unterdrücken seitdem die Katholiken. [Seit 2021 gibt es in Nord-Irland mehr Katholiken als Protestaten. Anm. 2024]

Seit dieser Zeit wird die Religion als Mittel zur Spaltung eingesetzt und die Besetzung des Landes als Religionskrieg verkauft. Der gescheiterte Osteraufstand 1916 in Dublin war das Fanal für einen Krieg gegen die Briten, der 1920 mit der Spaltung des Landes in die südlichen 26 Grafschaften und die nördlichen sechs Grafschaften den Briten nur noch diesen kleinen, allerdings industrialisierten Teil des Landes ließ. 

Bürgerrechtsbewegung Nordirland

Gewaltfreie Bürgerrechtsmärsche 1968 bildeten den Auftakt der heutigen Unruhen. Denn auf die einfachsten Forderungen der Katholiken wie gleiches Wahlrecht (in Derry hatte der reichste Protestant 16 Stimmen, mehrere tausend Katholiken durften überhaupt nicht wählen), gleiche Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten und der Auflösung einer protestantischen Sonderpolizeitruppe reagierten die faschistischen Banden der protestantischen Loyalisten (= loyal zur britischen Krone) unter der Führung des protestantischen Geistlichen und heutigen Europaabgeordneten Ian Paisley mit brutalster Gewalt: 
Die Bürgerrechtler werden zusammengeschlagen und -geschossen, ganze katholisch- republikanische (= für eine Republik Irland) Viertel wurden niedergebrannt, nachdem man den Bewohnern fünf Minuten gegeben hatte, um die Häuser zu räumen. In dieser Situation entstand die IRA.
Eileen K., die das miterlebt hat, berichtet: „Normale Leute fingen an, Petroleumbomben zu bauen, ordentliche Leute, die zur heiligen Messe und zur Kommunion gehen. Die IRA gab es zu dieser Zeit hier noch nicht. Es gab keine Möglichkeit, unsere Viertel anders zu verteidigen. Erst im Oktober/November 1969 formierte sich bei uns die IRA. Es waren die langhaarigen Jungen, die das in die Hand nahmen. Die Regierung stellt sie als Rowdies und Halbstarke dar. Das sind sie nicht sie sind unsere Beschützer.“

Unter diesen Umständen wuchs die IRA schnell zu einer Organisation, die in der Lage war, die katholisch-republikanischen Viertel zu verteidigen gegen loyalistische Banden und gegen die britische Armee, die zu Hilfe gerufen wurde von der protestantischen, nordirischen Regierung.
Innerhalb von wenigen Jahren war die IRA so stark geworden, dass sie von der britischen Regierung als Verhandlungspartner anerkannt werden musste und 1975 vereinbart wurde:
– dass die politischen Gefangenen aus Long Kesh freigelassen würden
– dass, die IRA das Polizeirecht in den republikanisch-katholischen Gebieten erhalte und dazu Büros eröffenen dürfe
– dass die republikanischen Führer bewaffnet sein dürften und nicht festgenommen werden.
Die Tatsache dieses Abkommens zeigt, dass die IRA im Volk verankert ist, den Willen der Bevölkerung repräsentiert, Teil des Volkes ist. Denn die britische Regierung hätte nie mit einer handvoll von Terroristen ein solches Abkommen geschlossen. Dieser Abriss über die Geschichte Irlands und die Entstehung der IRA war notwendig, weil sonst der Vergleich zur RAF nicht möglich ist. Die deutsche Geschichte braucht hier nicht erläutert zu werden.
Es reicht aus, die Entstehungsgeschichte der RAF zu zeigen, die sich völlig von der der IRA unterscheidet.

Geschichte der RAF

Die RAF definierte sich als „Fraktion“ des internationalen Proletariats, die die revolutionären Kämpfe aus den Befreiungsbewegungen der „Dritten Welt“ in die Metropolen tragen müsse, da von dem vom Imperialismus bestochenen Industrieproletariat Europas und der USA keine eigenen revolutionären Initiativen zu erwarten seien. Die RAF ging dabei von einer sehr pessimistischen Grundeinschätzung des Kräfteverhältnisses aus. Das Problem „Schwache Kräfte der Revolution – starke Kräfte der Reaktion“ war die Grundlage, mit der die RAF ihr Konzept der „Stadtguerilla“ hier und heute, ihr Konzept der „beispielhaften Aktion“ begründete, die die Massen aufrütteln und ihr die Verwundbarkeit des Gegners vorführen sollte. Die RAF behauptete: „Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier nur sein kann, die revolutionäre Interventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften“.
Hieraus folge, dass man auf das Proletariat nicht zu „warten“ brauche. Das Bewußtsein des Proletariats müsse vielmehr“aufgebrochen“ werden. Dazu sollte die „bewaffnete Propaganda“ dienen. „Wir müssen also einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewusstsein der Massen zu wecken … Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewusstsein der Masse.“ („Der bewaffnete Kampf“). Dass es, um in diesem geglückten Bild zu bleiben, einem so komplizierten und empfindlichen Ding wie dem Bewusstsein nicht gut bekommen kann, wenn man es mit Bomben traktiert, liegt auf der Hand. In knapper und präziser Form drückt das Zitat die Weigerung der RAF-Gründer aus, an dem langwierigen politischen Prozess einer Bewußtseinsbildung teilzunehmen.
Von den RAF-Gründern wurde besonders hervorgehoben, dass in ihrem Verständnis der „bewaffnete Kampf“ keiner Voraussetzungen und keiner Verbindung mit Massenkämpfen bedurfte: „Die Partisaneneinheit entsteht aus dem Nichts. Jeder kann anfangen. Er braucht auf niemanden zu warten. Einige Dutzend Kämpfer, die wirklich beginnen, und nicht nur endlos diskutieren, können die politische Szene grundlegend verändern, eine Lawine auslösen.“

RAF isoliert sich

Zwar sei die Unterstützung der Bevölkerung notwendig in ländlichen Gebieten wie China, Lateinamerika oder Vietnam. Aber: Anders ist es in der Großstadt. Sie bietet alle erforderlichen Versorgungsgüter in einer Weise an, die es nicht erforderlich macht, dass die Partisaneneinheiten aus ihrer Anonymitat hervortreten. Sie können auch nach ihren Aktionen in vorbereiteten Quartieren untertauchen, ohne auf die Hilfe aus der Bevölkerung angewiesen zu sein.“ (RAF Paper Bewaffneter Kampf).

Mit solchen Definitionen von „Guerilla“ war die RAF bereits theoretisch auf einem anderen Stern als ihre angeblichen Vorbilder, die alle von Mao Zedong bis zu den Tupamaros den Guerillakampf als Teil eines Volkskrieges definieren, der zur Grundbedingung hat, dass die Kämpfer/innen sich im Volk bewegen wie der „Fisch im Wasser“.
Während die IRA als Volksarmee entstanden ist, zur Verteidigung der Viertel, erwuchs die RAF aus der moralischen Empörung der 68er Bewegung. Die RAF hielt die objektiven, gesellschaftlichen Bedingungen reif für die Revolution, nur der subjektive Faktor, das Bewusstsein, müsste noch entwickelt werden.

RAF-Politik versagt

Das völlige Versagen der RAF-Politik erweist, dass diese Theorie des Aufrüttelns durch beispielhafte militärische Aktionen falsch ist, denn wer nicht „durch die herrschende Willkür aufgerüttelt wird und nicht aufzurütteln ist, der wird offensichtlich auch dem Zweikampf zwischen der Regierung und einem Häuflein von Terroristen ruhig zusehen und die Daumen drehen.“ (Lenin Werke Band 5, S.433)
Lenin sagt das auf Grundlage der Erfahrungen von der russischen Revolution, wo die politischen Verhältnisse insofern vergleichbar waren, als es keine entwickelte, revolutionäre Arbeiterbewegung gab und terroristische Gruppen den Funken bringen wollten, der mit bewaffneten Einzelangriffen, aber ohne eine politische Strategie das Pulverfass zur Explosion bringen sollte. 1902 schrieb Lenin dazu:
„Bei dem Fehlen einer zentralen Organisation und der Schwäche der örtlichen revolutionären Organisationen kann ja der Terror auch nichts anderes sein. Und deshalb erklären wir entschieden, dass ein solches Kampfmittel unter den gegebenen Umständen unzeitgemäß und unzweckmäßig ist, dass es die aktivsten Kämpfer von ihrer wirklichen, für die Gesamtbewegung wichtigsten Aufgabe ablenkt, und nicht die Kräfte der Regierung, sondern die der Revolution desorganisiert.“

Richtiger Zeitpunkt

Die Geschichte der RAF bestätigt diese Analyse. Denn nach anfänglichen Symphathien für die Bombenaktionen auf das US-Hauptquartier in Heidelberg, von wo aus der Krieg in Vietnam gesteuert wurde und wo durch die Zerstörung von Computern die Kriegsführung der Amerikaner schwer getroffen wurde, verlor sich die RAF hauptsächlich in Geldbeschaffungsaktionen und nach der Verhaftung des alten RAF Kerns 1972 in Aktionen für die Gefangenen.
Lenin und die Kommunisten heute lehnen nicht die Revolution ab, bei der es auch Gewalt gebe wird; sie lehnen einen bewaffneten Aufstand nicht ab, der aber zu dem Zeitpunkt erst erfolgreich sein kann, wenn die Bedingungen dafür geschaffen sind.

Dellwo: „Jetzt kämpfen“

Die RAF hat aus den Niederlagen nicht gelernt. In einer Erklärung aus dem Hochsicherheitstrakt in Celle schreibt Karl-Heinz Dellwo (Tageszeitung, 11. 3. 1981):
„Man muss es sich immer klar machen, dass es nicht um den ,bequemen Weg’ geht, sonst wird jeder in dieser Situation zum Kapitulant und heimlichen Verräter, rechtfertigt seine Schwäche mit der objektiven körperlichen Übermacht der Folterer wie damit, später zu kämpfen, wenn die Bedingungen besser sind, und tut damit nichts anderes, als die Schlechten festzuschreiben, die von selbst ja nie verschwinden werden. Wir brauchen Menschen, die unter diesen Bedingungen kämpfen, denn diese Bedingungen werden immer die dominierenden des Kampfes sein.«
Der persönliche Mut der RAF Genossen/innen, die Folter an ihnen und die vernichtenden Haftbedingungen in den Hochsicherheitstrakten sollen nicht geleugnet werden. Diese Bedingungen machen Menschen kaputt und dazu wurden diese Trakte gebaut.

Kommunisten: REVOLUTION ORGANISIEREN

Aber den „bequemeren Weg“ gehen heißt nicht, heute auf Politik zu verzichten, um die Waffe in die Hand zu nehmen. Der Kampf Einzelner gegen den Staat kann nie erfolgreich enden, sondern nur mit ihrer Vernichtung. Die Menschen müssen überzeugt werden, gewonnen werden und schließlich sich so organisieren, dass ein bewaffneter Aufstand möglich wird.
Die russische Revolution zeigt Erfolge und Misserfolge. Misserfolge zunächst bei den frühen Terrorgruppen, die nicht erst „später“ kämpfen wollten, sobald die Mehrheit der Arbeiterklasse gewonnen war.
Sie zeigt den erfolgreichen Aufstand, die organisierte Revolution, die nicht von einzelnen Terrorgruppen gemacht wurde, sondern die breiteste Unterstützung hat. Und sie zeigt dann, wie durch eine neue Bürokratisierung, durch die Herausbildung iner neuen herrschenden Klasse die Revolution zunichte gemacht wurde, die kapitalistische Produktionsweise wieder eingeführt
wurde – und heute die UdSSR ihre Truppen in fremde Länder einmarschieren lässt. Diese historischen Erfahrungen unter den Tisch fallen zu lassen, wie es die RAF und andere Gruppen tun, ist ein Fehler der zu unsinnigen Qualen und Toten führt.

Vergleicht man/frau diese Kampfaufforderung von Karl-Heinz Dellwo mit dem in dieser Broschüre abgedruckten IRA Interview, so wird deutlich, dass die IRA die Klassenlage genauer analysiert, den Hauptfeind herausarbeitet, die eigenen Kräfte realistisch einschätzt und so einen erfolgreichen Partisanenkrieg führen kann.

Illusionen über die Wirklichkeit

Die heutigen ideologischen Vertreter der RAF, die Trakt-Initiativen, verherrlichen eine verfehlte Politik und haben sich so festgerannt, dass sie die Wirklichkeit nicht mehr erkennen können.
In einer Erklärung der Anti-Trakt-Gruppen sagen sie über die RAF (tageszeitung 18.3.1981):
„Die RAF steht für den Entschluss der aus der Revolte Ende der 60er Jahre entstanden ist, mit dem Staat endgültig zu brechen und ihn mit Waffen zu bekämpfen. Sie hat das Verdienst, die Illusionen um den sozialdemokratischen Amnestie- und Reformstaat zerstört zu haben.“

Richtig an der Charakterisierung ist, dass es ein ENTSCHLUSS war, der damals getroffen wurde. Aber Entschlüsse verändern nicht die Welt. Und wenn ein falscher Entschluss gefasst worden ist, muss man ihn korrigieren oder fallenlassen, oder die Wirklichkeit läuft an diesem Entschluss vorbei. Und das ist offenbar der Fall. Denn es ist keineswegs so, dass die Illusionen über den sozialdemokratischen Reformstaat zerstört sind.
Die sozialdemokratische Ideologie der Sozialpartnerschaft beherrscht das Bewusstsein der Mehrheit, was sich in Parlamentswahlen zeigt (wo es in den letzten Jahren immer wieder verschiedene Alternativen gab, die zumindest angekreuzt hätten werden können).
Die Betriebsratswahlen widerspiegeln die Situation in der Arbeiterklasse: Trotz gewachsenen Einflusses der Kräfte, die den Klassenkampf propagieren und dem Filz von Sozialdemokratie und Gewerkschaften entgegentreten, verlässt sich die große Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Reformer und erhofft sich immer noch hierdurch eine gewisse Stabilität.
Die Auffassung der RAF und ihrer ideologischen Nachfahren über die Einzelangriffe steht die Politik der IRA völlig gegensätzlich entgegen. Was auf der einen Seite die Verschwörung Weniger ist, stellt sich auf der anderen Seite als Massenbewegung mit bewaffnetem Flügel dar.
Lenin über den Aufstand
Die Theorie des Blanquismus, die Theorie von der Machtergreifung einer kleinen Minderheit, auch wenn sie das Gute für die Mehrheit will, ist eine ältere Theorie, deren Kritik durch Lenin die wesentlichen Merkmale der grundlegenden Unterschiede zwischen RAF und IRA verdeutlicht:

„Um erfolgreich zu sein, darf sich der Aufstand nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei stützen, er muss sich auf die fortgeschrittenste Klasse stützen. Dies zum Ersten. Der Aufstand muss sich auf einen solchen Wendepunkt in der Geschichte der anwachsenden Revolution stützen, wo die Aktivität der vordersten Reihe des Volkes am größten ist, wo die Schwankungen in der Reihe der Feinde und in den Reihen der schwachen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am stärksten sind. Dies zum Dritten.“ (Lenin Bd. 26, S. 4-5)
Gegenüber diese Analyse der Situation, in der ein bewaffneter Aufstand erfolgreich sein kann – eine Analyse die sich immer wieder bestätigt hat bis in die heutigen Tage in Lateinamerika – mutet die Einschätzung und das Vorgehen der RAF stümperhaft an, weil die Kräfte der Unterstützer eines Aufstandes nicht richtig eingeschätzt wurden.

IRA unterstützt RAF Politik nicht

Andere ideologische Nachfolger der RAF, die Düsseldorfer Antifas, versuchen in einer umfangreichen, 70seitigen Broschüre mit dem Titel „Wenn wir zusammen kämpfen“ alle möglichen Dokumente zusammenzutragen, die eine Verbindung zwischen RAF und IRA herstellten sollen. Um es vorwegzunehmen: Kein einziger Satz findet sich dort, der eine Unterstützung des bewaffneten Kampfes seitens der republikanischen Bewegung in Irland erkennen lässt. Alle Solidarität bezieht sich auf die Lage in den Knästen und auf den Hungerstreik. Das ist kein Zufall, sondern Kennzeichen der klaren Einschätzung der Republikaner, dass sich der Klassenkampf im vom Imperialismus unterdrückten Irland und im imperialistischen Westdeutschland in unterschiedlichen Stadien befindet, unterschiedliche Aufgaben anstehen, die mit unterschiedlichen Methoden gelöst werden müssen. In keiner der angeführten Erklärungen und Briefe der republikanischen Bewegung kann auf eine Unterstützung der Aktionen gegen Buback, Ponto oder Schleyer verwiesen werden.

Ghadaffi zur IRA

Die IRA selbst zitierte unlängst in der ihr nahestehenden Zeitung „An Phoblacht“ Ghadaffi, der die Roten Brigaden, die ETA und die RAF gegenüber der PLO und der IRA abgrenzte: „Die IRA, die wir unterstützen, unterscheidet sich von allen anderen dreien. Wir unterstützen die gerechten Forderungen der Völker, wie der Palästinenser, aber wir verurteilen scharf den Terrorismus.“
Die IRA verurteilte die RAF nie, setzte aber dieses Zitat fett in einen Kasten, zu der Zeit, als Sigurd Debus sich im Hungerstreik befand. (Wobei sie sich, wie gesagt, mit den Forderungen für Erleichterung der Haftbedingungen solidarisieren)

Blinde Antifas

Bewaffneter Kampf in Irland, das ist lebendige, anschauliche Wirklichkeit, die nicht weg interpretiert werden kann. Wie ein Hohn klingt dagegen die Behauptung der Düsseldorfer Antifas, die gefangenen Genossen der RAF seien deswegen so wichtig, „weil sie durch ihre Praxis gezeigt haben, wie der Staat in die politische Krise gestürzt und schließlich vernichtet werden kann.“ Genau das Gegenteil hat die Wirklichkeit gezeigt: Die sozialdemokratische Ideologie der Sozialpartnerschaft behauptet sich und vernichtet werden die Genossen aus RAF und 2. Juni.
Das eigentlich Tragische: Dass diese Sätze im Februar 1981 geschrieben wurden, als das völlige Versagen der RAF seit Jahren offenkundig war, aber die Antifas das nicht erkennen wollen, sondern dabei sind, die gleichen Fehler zu wiederholen.
Ihre Motive zu kämpfen beschreiben sie so: „Woher sollen wir hier in der BRD, dem zweitstärksten NATO-Land, mit dem stärksten Polizeiapparat in Westeuropa überhaupt, die Kraft zum Kämpfen nehmen, wenn wir hinnehmen, dass unsere gefangenen Genossen vernichtet werden.“
Gerade in einem so starken imperialistischen Land darf nicht der Kampf um die Gefangenen die Antriebskraft sein. Wie soll der Imperialismus gestürzt werden, dieses mächtige, umfassende System, das alle Lebensbereiche erfasst, wenn nicht im Vertrauen auf die Arbeiterklasse, die der gesellschaftlichen Reichtum schafft, ohne über ihn verfügen zu können.

Zwei Forderungen zur Solidarität

Obwohl die IRA und die INLA aus dem Volke kommen und in der Bevölkerung verankert sind, fordern sie für die Unterstützung der Gefangenen nicht eine Unterstützung des bewaffneten Kampfes, sondern beschränken sich auf die fünf Forderungen, die humanitären Charakter haben. Damit soll eine möglichst breite Front aufgebaut werden, um die Haftbedingungen zu verbessern, um in diesem Punkt wirklich vorwärts zu kommen. Allgemein sollten die Unterstützer ihrer Sache für den Truppenabzug der Briten eintreten und für das Selbstbestimmungsrecht des irischen Volkes.
Was die Iren dann daraus machen, ist zunächst ihre Sache: Ob sie in einem kapitalistischen Irland leben wollen oder den Sozialismus anstreben, mit enger Verbindung zur Dritten Welt, wie die IRA es will …
Anders bei der RAF. Wer jetzt nicht kämpft, sagt Karl-Heinz Dellwo, ist „ein Kapitulant und heimlicher Verräter.“ Die Düsseldorfer Antifa dazu: „Viele sagen: Zusammenlegung der Gefangenen aus der RAF? Sicher, wir respektieren die Forderungen der Gefangenen! Das genügt aber nicht. Es geht darum, auch eine entsprechende Praxis zu entwickeln, weil sich sonst nichts ändert … Jeder, der auf kollektiven Widerstand aus ist, versteht das. Jeder, der die Notwendigkeit von organisiertem Widerstand im Kopf hat, weiß, dass die Auseinandersetzung und das Zusammensein mit Genossen dafür eine Bedingung ist!“ Da wird politische Solidarität bis zum Letzten gefordert, auf liberale und demokratische Unterstützung in der Haftfrage alleine wird keinen besonderen Wert gelegt.

„Realitätsverlust der RAF“

Abschließend sei noch auf eine Diskussion hingewiesen, die sich innerhalb der Gruppen abspielt, die exemplarische Aktionen heute und hier befürworten. Unterstützer der „Revolutionären Zellen“ schreiben über die RAF-Erklärung zum Abbruch des Hungerstreiks nach dem Tod von Sigurd Debus: (AK 11.4.81)
„Wo nehmen die Gefangenen aus der RAF die Vermessenheit und den Realitätsverlust her, einen Satz zu Papier zu bringen wie: ‚Aber wir meinen auch, dass wir nicht die Erfahrung der IRA im Dezember 1980 machen werden, nicht zuletzt, weil wir Solidarität erfahren haben.‘ „
Die RAF hat – auch nicht im Entferntesten – die politische Verankerung und militärische Stärke der IRA. Ebensowenig lässt sich die Solidarität, die die Gefangenen ‚erfahren haben‘, mit der messen, die den irischen Gefangenen in den H-Blocks zuteil wurde. Das erinnert uns alle sehr an die altbekannte, aber immer unerträglicher und peinlicher werdende Großkotzigkeit und Selbstüberschätzung der RAF, für die Selbstkritik ein Fremdwort ist und die (damit zwangsläufig) nur Helden (‚fighter‘) oder Verräter bzw. counter-Schweine kennt/produziert. Eine Großmäuligkeit, die sich per Selbstdeklaration auf dem Papier (nicht etwa durch ihre Praxis) zum Nabel des Widerstandes in den Metropolen und zum Hauptfeind des westlichen Imperialismus hochstilisiert.“
Soweit die Revolutionären Zellen über die RAF.

Sieg der IRA/INLA

Solidarität mit den irischen Republikanern und ihren bewaffneten Organisationen ist so wichtig wie die Solidarität mit der ZANU in Zimbabwe, die auch jahrelang als Terroristenorganisation bezeichnet wurde, die den Befreiungskampf in Rhodesien, der britischen Kolonie, bewaffnet geführt hat und die schließlich mit großer Mehrheit in die Regierung gewählt wurde. Großbritannien tat sich damals schwer, diese Kräfte als Regierung anzuerkennen – sie zögerten mehr als zwei Wochen – die sie solange als Terroristen bezeichnet hatten.
Würde der Norden Irlands frei, würde aus den heutigen Gefangenen Helden, würden die IRA-Leute als Freiheitskämpfer bezeichnet.
Wieland Giebel, Juli 1981