Portugal – Oktober 2022. Was von der Nelkenrevolution blieb

7. Oktober 2022, Algarve, Portugal

Abends noch in Irland bei Che Guevara und am nächsten Tag in Portugal aufwachen. Das ist ganz einfach, denn man kann von Cork im Süden Irlands direkt in den Süden von Portugal fliegen, nach Faro. Etwas nördlich der überfüllten Algarve liegt mitten in den Bergen ein kleines Hotel. Man erkennt in weiter Entfernung die Dunstglocke über den Hotels an der Algarveküste.

 

8. Oktober 2022, Alentejo, Portugal, nach Sao Domingos

Ich erinnere mich an die Eselskarren in Portugal auf schwer befahrbaren Landstraßen, an Feldarbeiter mit ihren schwieligen Händen und gegerbten Gesichtern auf Landgütern und den damals, 1975, neuen Kooperativen. Die EU hat Portugal gutgetan. Die Lebenserwartung liegt heute bei 85 Jahren bei Frauen und 79 bei Männern. Im Jahre 1970 lag sie noch bei 70 bzw. 64 Jahren.
Obwohl die Entfernung zum Atlantik nicht groß ist, wirken die Felder und Weiden in Portugal extrem trockener als in Irland, auch die Kork- und Olivenplantagen.
In den Bergen sieht es besser aus.
Mertola. Auch hier ist alles schön geworden. Milliarden Euro sind in das Land geflossen. Der Wohlstand ist sichtbar, auch in solchen kleinen Ortschaften, auch auf dem Land. Mertola hatte schon immer einen aktiven Bürgermeister und lange eine kommunistisch oder generell links gesinnte Bevölkerung.
Minas de Sao Domingos, mein Zwischenziel. In diesen Minen förderten die Phönizier Gold, später bis 1966 ging es um Kupfer, eine britische Mine. Eine 15 Kilometer lange Eisenbahnstrecke der Bergbaugesellschaft für den Güterverkehr führte nach Pomarão am Fluss Guadiana,
Wie oft bin ich 1993 und 1994 im weichen Wasser dieses Sees geschwommen.
Die englische Minengesellschaft hatte diese Häuser nach 1860 für die Arbeiter bauen lassen.
Die Bausubstanz ist gut erhalten, die Infrastruktur wurde auf aktuellen Stand gebracht.
Am Rande des alten Minenzentrums sind neue Siedlungen entstanden. Noch zur Salazar-Zeit, also dem Faschismus, kaufte ein Deutscher die 2000 Hektar, das gesamte Minengebiet, den Ort Sao Domingos einschließlich Mine, der Bahn und Bahntrasse nach Pomerao und auch den Ort Pomerao selbst. Es dauerte lange, bis sich eine Entwicklungsmöglichkeit fand, erst als es dafür EU-Mittel gab.
Ich hatte das große Glück, die Projektentwicklung in die Hand nehmen zu dürfen und meinen Traum eines humanen sozialen Lebensraums zu verwirklichen, nämlich ein Zentrum zu schaffen für landwirtschaftliche Entwicklung, Imkerei, Kultur, einer wettbewerbsgerechten Ausbildung sowie einem europäischen Wissenschaftskolleg. Ein Ort, dessen Basis auf europäischem Tourismus beruht für Menschen, die nicht in einen Robinson-Club wollen, sondern die mit anderen Europäern in intellektuell anregender und kulturell hochwertiger Umgebung zusammenkommen möchten. Mein Traum war eine Open-Air-Oper. Hotels, Ferienhäuser, Hostels – alle Ebenen der Gesellschaft sollen die Möglichkeit haben, zu kommen und Anteil zu haben.
Der Baumbestand, also nicht der Eukalyptus hier auf dem Foto, ist 100 bis 150 Jahre alt.
Aus dem ehemaligen Verwalterhaus wurde ein Hotel. Rechts am Verwalterhaus, hier nicht zu sehen, befand sich ein kleines Fenster, eher eine Klappe, wo wöchentlich der Lohn ausgezahlt wurde.
Ziel des Projekts ist die möglichst allseitige Entwicklung des Menschen, heißt es in meiner Planung: Wissenschaft, Sport, Musik, Reisen, Sprachen. Ein integriertes Großprojekt wie dieses ermöglichst auch den Zugang zu Managementfähigkeiten. Hier wird in die Zukunft gedacht.
Allerdings: nicht nur das Große Loch ist vergiftet, dieser See, auch das Projekt insgesamt war es, obwohl so gut mit den Gemeindevertretern, Lissabon und der EU abgestimmt. Es stellte sich heraus, dass ich für einen Hochstapler gearbeitet hatte. Die Blase platzte. Nichts zu retten.

8. Oktober Lisboa, Lissabon

Lissabon. Früher war es eher eine Tagereise von Sao Domingos, heute ist man schnell über die Autobahn da. Die Seefahrerstadt. Die Entdeckerstadt. Die Stadt der Nelkenrevolution 1974, wie ich sie kennengelernt habe, als wir 1975 eine Rundreise mit revolutionären Soldaten durch 50 deutsche Garnisonsstädte planten und durchzogen. Luz, die ich jetzt besuche, war damals die Übersetzerin – und eine Art Sozialarbeiterin für die beiden jungen Soldaten, denen es in Deutschland unerträglich eisig schien, obwohl ich im klapprigen VW-Bus hinten eine offene Campinggasheizung installiert hatte, möglicherweise nicht sehr legal.
Nachts in die Buchhandlung – das ist Kultur!
Die Menge an Restaurants im Bairro Alto ist unvorstellbar, die Stadtwerbung sagt bunt und hip. Stimmt. Es stimmt auch, was die Stadtwerbung sagt, dass es früher hier Intellektuelle gegeben hat. Jetzt eben Restaurants.

Endlich das richtige Restaurant. Eine schöne Dorade für mich. Darauf habe ich mich schon den ganzen Tag gefreut.

9. Oktober 2022, Lisboa

Marathon. Fanden hier nicht die Demos statt? Die jungen, freudig gestimmten, revolutionären Soldaten?
A classe operária, die Arbeiterklasse. Das ist alles, was ich davon noch entdeckt habe. Immerhin, wo gibt es sonst Denkmale für Werktätige? Für diese Künstler der Straßenpflasterung, die ich auch in Berlin bewundere.
Genau, Denkmale sind sonst solchen Herrenreitern vorbehalten, wie hier auf dem Praça do Comércio das Reiterstandbild von Rei Dom José I (1714 bis 1777), dem König, der nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 den Staat von einem klerikalen Königreich in aufgeklärten Absolutismus umwandelte, versuchsweise etwa in der Art von Friedrich dem Großen.
Was diesen Sportlern mit ihren geschwollenen Füßen gerade nicht bewusst ist: Der König auf dem Pferd war ein lösungsorientierter Monarch. Joseph, Rei Dom José I, hinterließ keinen männlichen Erben. Er stand deshalb vor der Wahl, entweder die weibliche Thronfolge zu ermöglichen, dann wäre seine Tochter Maria ihm auf den Thron gefolgt, oder an der männlichen Thronfolge festzuhalten, dann wäre sein jüngerer Bruder, Peter, als nächster in der Thronfolge berufen. Das Dilemma wurde dadurch gelöst, dass Joseph seinen Bruder mit seiner Tochter verheiratete.
Zurück zum profan Weltlichen. Stockfisch. Für den Merkzettel: ich esse ihn am liebsten als Auflauf.
Die Situation, nachdem Covid-19 angeblich vorbei sei: Der Tourismus boomt, ohne Tourismus geht gar nichts mehr.
Hier dient die Straßenbahn am Rande des Praça do Comércio als Kunstprojekt, aber sie fährt in echt auch noch durch engste Kurven, wie man hier unten im Video sieht, und steile Berge hinauf (zu Luz).

Museum Stadtgeschichte

Der Name ist so schräg portugiesisch und englisch wie der Berlin Story Bunker deutsch und englisch in wenig korrekter, aber sehr verständlicher Weise vermischt. Das war es dann aber auch schon an Ähnlichkeit. Nein, doch noch etwas: Beide Einrichtungen sind privat.
„Die Zeit der Reisen und Entdeckungen“ – so wird im Museum der portugiesische Kolonialismus umschrieben. Nichts von Sklaverei und Ausbeutung.
Der Papst, auch immer für die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen zu haben, verhandelt einen Vertrag zwischen Spanien und Portugal über die Aufteilung der Welt. Spanien mehr Mittel- und Südamerika. Portugal mehr Asien. Der Text im Museum dazu: Lissabon wird kosmopolitisches Zentrum.
Was ist die Folge des Kolonialismus, der vielen wie Sklaven gehaltenen fremden Menschen in der Stadt, der Güter aus Indien und dem Orient? „Die Exotik ist in die Stadt eingezogen.“ Liebe Regierung in Lissabon, dieses Museum ist eine Schande für die Stadt, für ganz Portugal!
Abends mit Luz in dieser modernen Gasto-Halle an der Messe-Lisboa, in der sich ein Restaurant neben dem anderen befindet, direkt am Tejo. Das empfinde ich als tolle Planung. Weit außerhalb des Bairro Alto, dennoch so voll, dass man am Vortag reservieren muss. Unsere Themen sind der Wahnsinn der Planung der Rundreise damals, immer den MAD im Nacken. Die Vergänglichkeit der Revolution. Und die Entwicklung von Portugal zum Wohlstand.

10. Oktober 2022, Lissabon

Ja, sehr schön erhalten und restauriert. Keine Hochhäuser dazwischen gesetzt, die hier nicht hingehören.
Nein, wie kann das sein? Wie kann Tourismus so entarten? NIE, nie kriegt mich jemand auf so ein Kreuzfahrschiff. Auch nicht als Geschichts-Entertainer. Auch nicht, wenn ich Neunzig bin. (Ich gönne es dem 91jährigen Kollegen G.H., dessen wirklich abenteuerliches Leben und dessen tragisches Schicksal ihn und seine Frau nun so durch die Welt trägt.)
Wirklich sehr schön. Eine wunderbare Aussicht von Santa Luzia …

 

 

… was mich aber wirklich berührt, ist diese ukrainische Flagge mitten auf dem Weg der Touristen, dieses unerwartete Zeichen der Solidarität.

11. Oktober 2022

Ab in den nächsten Flieger, von Lissabon zum BER.
Und da ist er, der Fernsehturm, ganz deutlich zu erkennen.

Test bestanden, nach Corona, nach der langen Pause. Reisen durch vier Länder geht, kommunizieren super, sogar in Kurdistan auf einer sechsspurigen Straße ohne Markierung mit einem SUV cruisen und in Irland links fahren.