Ich kenne keinen Gewöhnungseffekt. Im Berlin Story Bunker, in „Hitler – wie konnte es geschehen“, bin ich jeden Tag mit dem Holocaust konfrontiert. Durch diese Räume kann ich nicht gehen, ohne zu verzweifeln. Auch in Auschwitz wird es beim diesem Besuch nicht besser. Die Vorstellung ist grauenhaft, von solchen Mördern vielleicht abzustammen oder von ihnen in der Schule unterrichtet worden zu sein. Bestraft wurde ja fast keiner.
Die Vernichtungslager, die ich besucht habe, lagen im Generalgouvernement. Sechs Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs (1. September 1939) ordnete Hitler am 12. Oktober 1939 an, dass die Militärverwaltung des besetzten Polens durch eine Zivilverwaltung abgelöst werden soll. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion wurden dem Generalgouvernement im August 1941 weitere Landstriche wie Galizien hinzugefügt.
Es ging um Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik, um Germanisierung, um „Lebensraum im Osten“, wie Hitler es in Mein Kampf angekündigt hatte. Die jüdische und Teile der polnischen Bevölkerung wurden umgebracht. Parallel zu den Vernichtungsaktionen (Vernichtung durch Arbeit) wurde eine Ausbeutungspolitik entfaltet, die den starken Arbeitskräftemangel in der deutschen Wirtschaft kompensieren sollte.
Historiker bei Yad Vashem in Jerusalem sagen, es habe 2.600 Erschießungsplätze in Europa gegeben – in den von Timothy Snyder als bloodlands bezeichneten Ländern von den baltischen Staaten über Polen, die Ukraine bis zum Schwaren Meer. Snyder sagt auch, in diesem Streifen seien zwischen 1932 und 1945 mehr als vierzehn Millionen Menschen einfach so ermordet worden, nicht im unmitelbaren Zusammenhang mit Kriegshandlungen.
Auschwitz
In Auschwitz war ich 2019 – ebenfalls mit Bettina Habsburg-Lothringen von der Museumsakademie Joanneum in Graz und Dirk Rupnow, Professor am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck. Mein ausführlicher Bericht von 2019 ist hier verlinkt.
Was hat sich geändert? Historiker sagen jetzt, es seien nicht 1,2 Millionen vergaste und verbrannte Menschen gewesen, sondern weniger als eine Million. Für Historiker wichtig. Sie geben sich große Mühe, genau zu sein, herauszufinden, wie es eigentlich war. Ich nehme das ernsthafte Erkenntnisinteresse unterwegs immer wieder wahr. Im Ergebnis bleibt jedoch: Was einmal war, kann wieder geschehen.
Neu im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist, dass Besucher auf den Turm des Eingangsportals dürfen. Damit nimmt man die Perspektive der SS ein.
Plaszow
Plaszow liegt in Krakau, der Stadt, in der Oskar Schindler, Industrieller und Mitglied der NSDAP, Juden in seinen Emaillewaren- und Munitionsbetrieben beschäftigte. Er forderte 1200 Arbeitskräfte aus dem Krakauer Ghetto an, darunter 600 Juden. Als das Ghetto im März 1943 aufgelöst wurde, bestach Schindler die Führung des Konzentrationslagers Krakau- Plaszow, um seine Arbeiter weiterhin einsetzen zu können. Die Emaillefabrik von Oskar Schindler wurde in ein Museum umgewandelt, das eher die Kriegsereignisse in Krakau während des Zweiten Weltkriegs zeigt.
Belzec
Auf dem Gemälde sieht Belzec aus wie ein Gartenparadies. So war es auch angelegt: Blumen an vielen Stellen. Bei der Ankuft der bis zu 2000 Menschen in 15 Waggons wurde eine Rede gehalten, dass sie zur Arbeit gekommen seien. Das erweckte Hoffnung auf einigermaßen gute Ernährung. Die Menschen waren zuvor 24 Stunden oder einen Tag oder zwei Tage in einen Viehwaggon gesperrt ohne Trinken, ohne Essen. Frauen und Männer wurden getrennt, angeblich, weil es zum Duschen und Desinfzieren ging – nackt. Den Frauen wurden dann die Haare geschnitten. Immer wieder baten junge Frauen darum, sie nicht ganz kurz zu schneiden. Anschließend war es vorbei mit Freundlichkeit, sie wurden unter Tritten und Schlägen zur Gaskammer durch eine enge Gasse getrieben, die „Schleuse“. Zwei Stunden nach der Ankunft waren alle tot. 450.000 Menschen wurden ermordet, vier Monate hindurch bei Tag und bei Nacht. 33 Massengräber waren vorbereitet worden. Die erste Gaskammer hatte eine Kapazität von 1000 Menschen pro Tag, sie wurde bald durch eine größere ersetzt. Die Zerstörung am Ende durch die SS war so gründlich, dass Archäologen bis heute nicht herausgefunden haben, wo genau die Gaskkammer stand.
In Belzec wurden vor allem Chassiden, traditionelle Juden, aus Galizien getötet. Anders als Juden in Deutschland, die deutsch sprachen und weitgehend assimiliert waren, lebten sie in Ghettos/Stadtteilen und sprachen jiddisch. Seit einigen Jahren kommen immer mehr Chassiden als Besucher nach Belzec. In der ukrainischen Stadt Uman versammelten sich zu dem Zeitpunkt 32.000 (angereiste) Chassiden. Ich saß eine Woche zuvor auf dem Weg nach Kyiv ein einem Zug voller Chassiden, die wie im Mittelalter aussehen – aber mit Smartphone.
Majdanek
Germanisieren! Hier ist es schön, die Böden sind fruchtbar, hier werden wir kolonisieren. Lebensraum im Osten schaffen. Erstmal ein KZ bauen, die Juden und Polen ausrotten – so etwa argumentierte Heinrich Himmler. 80.000 Juden, 10.000 Polen wurden in einem Jahr vergast und verbrannt, mit Ukrainern und Belarussen zusammen 80.000.
Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek lag damals außerhalb der Stadt Lublin im Südosten Polens. Heute befindet es sich mitten in der Stadt, die inzwischen dreimal größer ist. Das Konzentrationslager war vorübergehend auch Vernichtungslager.
Majdanek wurde seit Ende 1943, dann vom 19. März bis zum 22. Juli 1944 geräumt, die Gebäude weitgehend verbrannt oder vernichtet, weil die Ostfront näher kam. So früh. Es dauerte noch bis zum 8. Mai 1945, bis die Wehrmacht kapitulierte. Zur Erinnerung: Die alliierten Truppen landeten am 6. Juni 1944 in der Normandie – D-Day. Die deutschen Soldaten kämpften verbissen für Hitler und den Nationalsozialismus.
Das Krematorium. 95 Prozent des Lagers auf einem 90-ha-Gelände wurden zerstört, erst von den Nazis, dann einiges von der Roten Armee. Rekonstruiert wurde so, dass man sich heute vorstellen kann, wie es damals war.
Erhalten ist doch erstaunlich viel, was ausgegraben wurde. Das Zyankali zur Vergasung wurde aus Hamburg geliefert.
Einzelne Dosen sind sogar mit Etikett erhalten.
„Aktion Ernetfest“. In einer groß angelegten Aktion ermordeten deutsche SS- und Polizeiangehörige am 3. und 4. November 1943 im Konzentrationslager Majdanek und den Arbeitslagern Poniatowa und Trawniki mehr als 40 000 Jüdinnen und Juden. Es war die größte Erschießungsakion in der Geschichte der Konzentrationslager. Gendarm Otto H. wusste, was vor sich ging: „Früh morgens, nachdem die Aufstellung vollzogen war, begann aus Lautsprechern laute Schallplattenmusik. Ich erinnere mich vor allem, dass Märsche gespielt wurden. Dazwischen hörte ich das Schießen aus Maschinenwaffen.“ Die Aufseherin Erna Pfannstiel beklagte sich in ihrer Vernehmung bei der Stasi über die Folgen: „Schon in den frühen Vormittagsstunden hörten wir plötzlich vom rückwärtigen Teil des Lagers her fürchterliches Schießen. Es war dies so erschreckend und nervenzermürbend für mich, dass ich einen Nervenzusammenbruch erlitt.“ Die Opfer wurden in zuvor angelegte Gräben getrieben und von oben erschossen. Oder sie mussten sich in Gruben legen, oft auf die noch warmen Leichname anderer Ermordeter, und starben dann durch Genickschuss. Ausführlich dazu: Stefan Klemp, „Aktion Ernetfest – Mit Musik in den Tod“. Klemp hat die zahlreichen Aussagen von Zeugen ausgewertet, die im Rahmen von Ermittlungsverfahren entstanden sind. Vor allem im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, aber auch bei der Stasiunterlagen-Behörde und im Bundesarchiv wurde er fündig.
Anders als in Auschwitz kommen viele Besucher der Gedenkstätte aus der näheren Umgebung. Schon Ende 1944, also lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, richteten ehemalige Insassen und Bewohner das Museum ein. So ist es heute auch in der Ukraine, wo in einigen Orten bereits auf lokaler Ebene an Museum gearbeitet wird, obwohl ein Endes des Krieges nicht absehbar. In Berlin dagegen ist nach 1989 von der Mauer nichts mehr zu sehen ist – geschichtslos.
„Ich arbeite hier seit 1986. Damals habe ich noch FDJ-Gruppen geführt“, sagt der perfekt deutsch sprechende stellvertretende Museumsdirektor.
Das war vom ersten Krematorium erhalten. Ein Sturm hatte das Dach weggefegt. Ukrainer, Polen und Russen wurden zur Arbeit eingeteilt. Juden wurden selektiert, nur die Stärksten wurden zur Arbeit eingeteilt. Die anderen kamen gleich ins Gas, etwa die Hälfte.
Bad und Desinfektion. Wie in den anderen Vernichtungslagen wurde den Opfern vorgegaukelt,
dass sie vor dem Arbeitseinsatz desinfiziert werden.
Wie in den anderen Vernichtungslagern wurde den Opfern so lange wie möglich vorgegaukelt, dass es um Desinfektion geht.
Sie wurden vergast und von den Hilfskräften in die Krematorien gebracht.
Die beiden Krematorien in Majdanek wurden ausgestattet mit Öfen der Firma H. Kori G.m.b.H. mit Sitz in Berlin, Potsdamer Straße 111.
Der koksbeheizte Kori-Ofen im Konzentrationslager Mauthausen, der am 4. Mai 1940 in Betrieb genommen wurde, war vermutlich das erste Modell der von Kori für die Konzentrationslager entworfenen Öfen. Die vier Öfen des Krematoriums im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin besaßen die gleiche Form wie der später erbaute Ofentyp von Majdanek. Sie bildeten zusammen eine einheitliche Einrichtung von 12,46 m Länge und 2,66 m Höhe.
Im Januar 1943 machte die Firma Kori Druck und wies auf ein Lieferkettenproblem hin. Die Armaturteile der Öfen seien beinahe bereit. Die Bestellung seitens des Hauptamts C III werde nun erwarte, um auch das – von einer oberschlesischen Firma gelieferte – feuerfeste Material bestellen zu können.
Die Schuhe sind echt. Sie stammen alle aus dem Vernichtungslager Majdanek. Ein zwölfjähriges Mädchen musste die Schuhe der Toten sortieren, bevor es selbst umgebracht wurde. „…kleine Schuhe, Kinderschuhe, Herrenschuhe, Mädchenschuhe … warum, warum, warum?“, schrieb es in einem Gedicht. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers fand man 43.000 Paar Schuhe von Häftlingen. Sie liegen jetzt in der Baracke 52, die im Wirtschaftsteil des Lagers stand und zur Aufbewahrung von Werkzeugen diente.
Die Betten sind historische Rekonstruktionen, also nachgebaut. In jeder Koje schliefen etwa sechs Menschen. Wer nachts auf den Eimer ging, verlor möglicherweise seinen Platz. Die Frauen waren in getrennten Baracken untergebracht. Allein 5.000 Frauen arbeiteten am Flughafengelände von Lublin, um die Kleider der ermordeten Juden aus mehreren Vernichtungslager zu sortierren, reparieren, reinigen und für den Versand nach Deutschland fertigzumachen. Sie wurden dann an bedürftige Deutsche verteilt.
Am 23. Juli 1944 wurde Majdanek als erstes nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager von den Sowjets befreit. Mindestens 78.000 Menschen, darunter bis zu 60.000 Juden, sind im KZ Lublin ums Leben gekommen. Die restlichen Insassen wurden, sofern sie arbeitsfähig war, auf KZs weiter im Westen verlegt.
Sobibor
1942 hatte ein neunjähriger Junge aus Chelm in Krasniczyn ein Fotoalbum mit zwölf Bildern gefunden und es bis zu seinem Tod 2012 bei sich behalten. Seine Nachfahren gaben es dem Museum Majdanek. Deutsche Juden mussteen 1942 von Majdanek nach Sobibor laufen.
Mich erstaunte, dass die Gespräche auf der Reise auch entlang der polnischen Grenze zur Ukraine sich um Stipendien für Historiker drehten, über Stellen für Dozenten und Professoren, welche Kollegen was veröffentlicht haben – aber immer akademisch blieben, als hätte das, was wir uns an Hitlers Vernichtungskrieg gerade ansehen, nichts mit unserer Verantwortung heute zu tun, mit der Ukraine. Ich hatte gesagt, dass ich gerade aus Kyiv komme. Nur ein Einziger fragte danach. Er war vor Jahren in der Ukraine und auf der Krim gewesen – „natürlich ukrainisch“.
Der Außenbereich, den wir schon sehen konnten, wird erst im Oktober 2023 zum 80. Jahrestag des Aufstands von Sobibar eröffnet. Deswegen gibt es davon hier keine Fotos von mir. Auf der Internetseite Gedenkorte Europa sieht die Darstellung des neuen, weißen Aschefelds der Außenanlage so aus:
80TH ANNIVERSARY OF THE UPRISING IN SOBIBÓR
In October 1943, the uprising broke out in the German Nazi death camp in Sobibór. It was one of the most heroic acts of Jewish resistance during WWII. As a result, about 300 prisoners escaped from the camp, from which ca. 50 survived the war. The ceremony commemorating the uprising is held on 12 October, at 13.00 at the Museum and Memorial in Sobibór. The ceremony on the 80th anniversary of the prisoners‘ uprising at the German death camp in Sobibór is organised under the Honorary Patronage of the President of the Republic of Poland Andrzej Duda.
Am 14. Oktober 1943 zetteln einige mutige jüdische Gefangene eine Revolte an. Nach dem Aufstand im Vernichtungslager Treblinka am 2. August 1943 ist der Aufstand von Sobibór der zweite erfolgreiche Widerstand in den Todeslagern. Die über 300 Aufständischen töten zwölf SS-Wachleute, brechen aus Sobibór aus und versuchen, in die umliegenden Wälder zu flüchten. Viele Gefangene sterben jedoch auf der Flucht im Kugelhagel der Wachleute oder im Minenfeld am äußeren Zaun des Lagers. Rund 200 überleben den Fluchtversuch. Der britische Regisseur Jack Gold hat die damaligen Ereignisse 1987 in seinem Film „Flucht aus Sobibór“ verfilmt. Sehr informativ zum Aufstand ist Wikipedia.
Treblinka
Nochmal ein Schlag in die Magengrube.
Im Vernichtungslager wurden zwischen Juli 1942 und August 1943 deutlich über 700.000, bis zu über 1 Million Menschen ermordet. Wahrscheinlich mehr als in Auschwitz. Treblinka liegt östlich von Warschau. Die Juden aus dem Warschauer Ghetto wurden dort umgebracht.
Die einzige auf dem Gelände erwähnte individuelle Person ist der Arzt und Pädagoge Janusz Korczak (Henryk Goldszmit), dem zusammen mit den etwa 200 Kindern, die er auf ihrem Weg nach Treblinka begleitete, ein Stein mit der Inschrift Janusz Korczak gewidmet ist.
Der Schlag in die Magengrube, das sind die Kinder. Ich habe drei Kinder – die keine Kinder mehr sind, ein Kindertheater gegründet, zwei Kinderläden, zahlreiche Kinderbücher gemacht.
Janusz Korczak war Reformpädagoge in Warschau.
Als Reformpädagoge Korczak verfolgte den Grundgedanken der Selbstbestimmtheit und setzte auf Erziehung ohne Autorität und für Individualität. Er förderte die Reflexion von ErzieherInnen und stellte das Kind in den Mittelpunkt. Er setzte auf Erziehungsmethoden wie das Kameradschaftsgericht und das Kinderparlament. Zunächst richtete er ein „Kinderparlament“ ein, in dem die Kinder selbst wählen und die Gesetze für das Heim gestalten sollten. Über Verstöße gegen diese Gesetze sollte das „Kameradschaftsgericht“ entscheiden, dem ein (von Kindern) gewählter Richter oder eine Richterin, vorsaß.
Aus der Leitungsfunktion zweier Waisenhäuser heraus entwickelte er seine bedeutendsten reformpädagogischen Gedanken. Die pädagogischen Schriften Janusz Korczaks stellen ein in viele Sprachen der Welt übersetztes Plädoyer für die Rechte des Kindes, für Vergebung und Milde, für Liebe und Humor in der Erziehung dar.
Korczak forderte die Erziehenden immerzu dazu auf, Kinder zu beobachten, das eigene erzieherische Handeln zu reflektieren und erst davon ausgehend pädagogisch zu handeln, sich also nicht auf fremde Gedanken und Theorien zu verlassen.
Das alles erinnert nicht an die sowjetische Pädagogik, sondern an das GRIPS-Theater. So sind auch die Ziele von Volker Ludwig, dem Gründer und Mentor bis heute. Die Vorstellung seines Buchs „Es ist herrlich zu leben“,, erschienen im Berlin Story Verlag, fand am Sonntag im GRIPS mit 300 Besuchern statt, bevor meine Reise nach Kyiv am Montag losging. Ich hatte das so gelegt.
Im August 1942 wurden die 200 Kinder des Waisenhauses von der SS zur Deportation in das Vernichtungslager Treblinka abgeholt. Obwohl Korczak wusste, dass dies den Tod bedeutete, wollte er die Kinder nicht im Stich lassen und bestand ebenso wie seine Mitarbeiterin Stefania Wilczyńska darauf, mitzufahren. Der Komponist und Pianist Władysław Szpilman wurde Augenzeuge des Abtransports und beschreibt die Szene in seinen Memoiren:
„Eines Tages, um den 5. August […] wurde ich zufällig Zeuge des Abmarsches von Janusz Korczak und seinen Waisen aus dem Ghetto. Für jenen Morgen war die ‚Evakuierung‘ des jüdischen Waisenhauses, dessen Leiter Janusz Korczak war, befohlen worden; er selbst hatte die Möglichkeit, sich zu retten, und nur mit Mühe brachte er die Deutschen dazu, daß sie ihm erlaubten, die Kinder zu begleiten. Lange Jahre seines Lebens hatte er mit Kindern verbracht und auch jetzt, auf dem letzten Weg, wollte er sie nicht allein lassen. Er wollte es ihnen leichter machen. Sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude, erklärte er den Waisenkindern. Endlich könnten sie die abscheulichen, stickigen Mauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe.
Er ordnete an, sich festtäglich zu kleiden und so hübsch herausgeputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an. Die kleine Kolonne führte ein SS-Mann an, der als Deutscher Kinder liebte, selbst solche, die er in Kürze ins Jenseits befördern würde. Besonders gefiel ihm ein zwölfjähriger Junge, ein Geiger, der sein Instrument unter dem Arm trug. Er befahl ihm, an die Spitze des Kinderzuges vorzutreten und zu spielen – und so setzen sie sich in Bewegung. Als ich ihnen an der Gęsia-Straße begegnete, sangen die Kinder, strahlend, im Chor, der kleine Musikant spielte ihnen auf und Korczak trug zwei der Kleinsten, die ebenfalls lächelten, auf dem Arm und erzählte ihnen etwas Lustiges. Bestimmt hat der ‚Alte Doktor‘ noch in der Gaskammer, als das Zyklon schon die kindlichen Kehlen würgte und in den Herzen der Waisen Angst an die Stelle von Freude und Hoffnung trat, mit letzter Anstrengung geflüstert: ‚Nichts, das ist nichts, Kinder‘ um wenigstens seinen kleinen Zöglingen den Schrecken des Übergangs vom Leben in den Tod zu ersparen.“
Holocaust, Hitler und heute
Ich bin gefragt worden, wie die Reise durch die Todeslager für mich war. Im Bunker https://www.berlinstory.de/ bin ich jeden Tag mit dem Holocaust konfrontiert. Mein Büro liegt hinter den drei Räumen Holocaust – von vierundvierzig in der Dokumentation „Hitler – wie konnte es geschehen“. Ich sehe das Entsetzen in den Augen der Besucher, in der ganzen Körperhaltung, manchmal die Tränen. Wir haben im Berlin Story Verlag so viel Bücher zum Nationalsozialismus gemacht https://www.berlinstory-verlag.de/, aus der Perspektive der Opfer, über die Täter, das Hitler-Itinerar – jegliche intellektuelle Durchdringung ist nichts gegenüber der direkten Konfrontation mit dem Morden in den Vernichtungslagern.
Nein, ich kann mich nicht daran gewöhnen und bin auch nicht abgehärtet. Zu sehen, wie unsere Vorfahren Millionen von Menschen abgeschlachtet haben, wie Menschen zu Tausenden einfach mit der Pistole in der Hand exekutiert wurden, wie Kinder in den Scheiterhaufen zwischen die vergasten Körper der Erwachsenen geschoben wurden, weil es dann besser brennt – ich kann das für mich nur einigermaßen klar kriegen, indem ich mich für die Ukraine engagiere. Putin ist Hitler ohne Holocaust. Alle Besucher des Bunkers ziehen heute diesen Vergleich. Er liegt auf der Hand. Es läuft, wie Bunkerdirektor Enno Lenze sagt, nach dem Handbuch der Diktatoren. Putins Holocaust kann nur verhindert werden, wenn die Ukrainer schnell den Krieg gewinnen, wenn sie genug Unterstützung erhalten. Daran arbeiten wir mit unseren bescheidenden Mitteln.
Allein während ich in Polen war, haben wir eine Ladung Hilfsmaterial geliefert, dazu eine Drohne (dazu Enno Lenze auf Twitter https://twitter.com/ennolenze/status/1704180580038979947) und zum Kauf eines Rettungswagens für Saporischschja nicht unwesentlich beigetragen.
Der Bunker ist zu einem Zwischenlager geworden. Aktivist Alex schreibt am letzten Tag unserer Reise:
„Liebe Leute, es ist vollbracht! Der Rettungswagen für Saporischschja ist finanziert. Vielen, vielen Dank an Euch alle, die Ihr gespendet oder unsere Botschaften weiterverbreitet habt!
Der Wagen ist bereits gekauft und für den Weitertransport aus Polen ist fast alles vorbereitet. https://ukrainesolidaritybus.org/en/“
Ein Hoch auch auf das Internet! Während ich in der ganzen Woche während der Reise am letzten Schliff dieses Buchs gearbeitet habe, ging die Druck-PDF am Sonntag, dem letzten Tag unserer Reise, an die Druckerei. Enno Lenze, Chef des Berlin Story Bunkers, hat mit „Into the Fire“ ein Buch über seine Reisen in den letzten Jahren nach Kurdistan-Nordirak, Afghanistan und mehrmal in die Ukraine vorgelegt. Druckereien sind inzwischen so schnell, dass die ersten Exemplare am Freitag ausgeliefert werden können.
Dirk Rupnow, der mit anderen die Führungen machte: „Die Empfindlichkeiten ändern sich. Es gibt Moden in der Darstellung.“ Darum ging es bei dieser Reise. Man kann den Holocaust nicht wirklich darstellen. Man kann auch kaum die unterschiedlichen Darstellungsversuche in den Vernichtungslagern bewerten. Sie sind der Zeit geschuldet und dem Umfeld. In Treblinka besprechen sie Änderungen auch mit der Gemeinde. Gedenkstätten für das Volk, nicht für die Experten.